#4.1 Nachrichten aus der Zwischenwelt

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Die Postkarte ist uralt und sie zeigt eine noch ältere Stadt, die wahrscheinlch nur gemalt ist, obwohl sie täuschend echt wirkt, vielleicht ist es auch ein bearbeitetes Foto einer Stadt, die in Trümmern liegt und die es wahrscheinlich überhaupt nicht gibt. Vielleicht ist es Troja, vielleicht Tripolis oder Babylon. Auf der Rückseite sind in Druckschrift zwei Zahlen notiert, getrennt mit einer Pipe:

-31,2476137 | 39,3922396

Das ist alles. Kein Name. Keine Unterschrift. Keine andere Botschaft.

Ich kann die Karte so oft drehen und wenden wie ich will. So oft bis ich über mich selbst lachen muss, als ich meine erleuchtete Silhouette  im dunklen Fenster dabei ertappe, wie sie die Karte zum x-ten Mal umdreht, wie ein Hamster im Laufrad muss das von außen wirken, als ich mir immer wieder und wieder diese Zahlen ansehe, die sehr präzise geschrieben sind, aber nicht so präzise, dass man meinen könnte, sie seien gedruckt.

Diese Karte kommt mir wie eine Botschaft aus der Zwischenwelt vor. Und von wem sollte eine solche Botschaft schon kommen? Von wem? Kein anderer Mensch oder Nicht-Mensch, den ich kenne, würde mir so etwas zuschicken. Eine Karte verpackt in einen Brief verpackt in einen Karton, weil man keine Briefe oder Postkarten mehr veschicken kann, nur noch Päckchen mit Waren, eine Matrjoschka. Wer sonst versucht mit allen Mitteln auf diese hilflose Weise altmodisch zu sein, sich mit einer Vergangenheit zu verbinden, die für diese Person genauso irreal wie die Zukunft ist? Mit dem Wissen geschrieben, dass ich etwas damit anfangen kann. Vielleicht sogar mit dem Wissen, dass ich darüber lachen muss.

Aber im Moment kann ich nur über mich selbst lachen. Dagegen weiß ich nicht, was ich mit dieser Karte anfangen sollte, ich weiß nicht, was diese Karte bedeutet, außer vielleicht: ich lebe noch. Ich bin irgendwo. Ich hab dich nicht vergessen... Dass sie darüber hinaus etwas bedeutet, kann ich nur vermuten.

Später, als ich zu Hause bin, werde ich das herausfinden. Das heißt, ich stelle Mutmaßungen an, von denen sich keine einzige als ausgesprochen wahrscheinlich erweist. Es gibt mehrere Möglichkeiten, mehrere mehr oder weniger sinnvolle Hypothesen, die ich anstelle, von denen sich am Ende nur eine einzige auch nur ansatzweise als brauchbar erweist, wenn überhaupt.

Es sieht alles danach aus, als handle es sich bei den Zahlen um Geocodes. Bestehend aus Längen- und Breitengrad. Schon allein die vielen Nachkommastellen, die Präzision und die Tatsache, dass die eine Zahl positiv, die andere negativ ist.

Aber falls es ein Geocode sein sollte, und diese Tatsache spricht wiederum dagegen, dass es ein Geocode ist, dann handelt es sich um den Geocode einer kleinen Stadt auf einer kleinen Insel inmitten des Atlantischen Ozeans, die zu den Azoren gehört und die etwa 1400 Kilometer westlich vom portugiesischen Festland entfernt liegt: "Lajes das Flores" auf Santa Cruz das Flores, sagt der Geocoder. Nie gehört. Die westlichste Insel der Azoren, ein Ort mit einem Namen und einer Lage, den es eigentlich nur im Märchen geben kann.

Das letzte was ich von den Azoren gehört habe, was mir in Erinnerung geblieben ist, sind die Ausläufer eines tropischen Sturms, der vor zwei oder drei Jahren auf dem Weg aus der Karibik über die Inselgruppe hinweggefegt ist. Er hat eine Schneisse der Zerstörung hinterlassen, die gesamte Infrastruktur über Nacht ausradiert. Die Städte und Dörfer und Häuser an den Küsten überflutet. Die Bewohner sind aufs Festland geflohen, manche schon vor dem Sturm, manche danach, manche sind geblieben und manche ertrunken. Die Landwirtschaft, die wenige Industrie, der Tourismus: alles zusammengebrochen.

Und die Fotos, die ich im Internet von den Azoren finde, sind fast ausschließlich vor dem Sturm aufgenommen. Sie zeigen Liebespaare, Wanderer, Mädchen in Bikinis, die in zerklüfteten Buchten im Meer baden, über denen betonschwere brutalistische Hotelbauten thronen. Es gibt nur wenige Bilder, die nach dem Sturm entstanden sind. Kein Wunder. Denn diese wenigen Bilder bieten ein Bild der Verwüstung. Auf den kurzen Kiesstränden der Küsten, über die die Brecher einer rauen See rollen, liegen gestrandete, leckgeschlagene Schiffe, Fracht-, und Militärschiffe, Fischerboote und kleinere Schaluppen. Dahinter, an Land, stehen Ruinen oder Häuser mit geborstenen Fensterfronten und von Algen und Schimmel befallenen Wänden oder Balkonen. Nur die Natur scheint dieser biblischen Katastrophe getrotzt zu haben. So als würde sie etwas zurückerobern. Überall wachsen Büsche und Bäume und Blumen stehen in voller Blüte inmitten marodierender Straßenzüge, die merkwürdig friedlich wirken.

Es gibt sogar einen zittrigen Film, den ich nach langem Suchen finde, aufgenommen mit einer Drohne, die durch die Schluchten einer verlassenen, versunkenen Geisterstadt irgendwo an der Küste von São Miguel zirkelt und sich dann wieder übers Meer entfernt. Keine Ahnung, ob irgendjemand dorthin zurückgekehrt ist.

Im Moment gibt es nur eine einzige Fluggesellschaft, die die Hauptinsel mit einer einzigen Maschine einmal im Monat anfliegt, Dienstags von Lissabon aus, wenn sich genügend Passagiere finden. Aber Lajes das Flores liegt nicht auf der Hauptinsel, nicht auf São Miguel, sondern auf Santa Cruz das Flores, 300 oder 400km oder noch weiter westlich.

Es ist schwer zu sagen, ob diese Koordinaten wirklich einen Ort bezeichnen. Es ist geradezu absurd. Was um alles in der Welt, will Kim mir damit sagen? Dass sie dort wohnt? Warum sollte sie dort wohnen? Was sollte sie dort machen? Ein Kloster für Androiden?

Aber im Moment fällt mir nichts besseres ein. Ich wüsste nicht was. Ich weiß es wirklich nicht, liebe Kim. All das gibt keinen Sinn für die dumme Lena. Vielleicht überschätzt Du mich ja Kim, mich und meine Fähigkeit solche Rästsel zu lösen. Ich bin kein Rechengenie! Vielleicht ist das auch nur eine sinnlose Abfolge von Zahlen. Oder die Karte ist doch nicht von Kim. Aber von wem sonst?

Die AndroidinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt