#1.5 Abschiedsbrief

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Der Abschiedsbrief ist leeres Gerede. Er glaube nicht, schreibt Marc, dass ich ihn verstehen könne. Er könne das vielleicht selbst nicht. Aber ich dürfe nicht denken, dass er mich nicht geliebt habe. Wir haben uns nur in den letzten Monaten auseinandergelebt, schreibt er, und dass er mich nicht unglücklich machen wolle, vielleicht haben wir uns entliebt.

Zum Glück, wenn man dabei von Glück sprechen kann, hat er mir außer diesem nichtssagenden Brief noch etwas anderes vermacht. Etwas, von dem er glaubt, dass ich keinen Zugriff habe: sein Tagebuch.

Er hat es auf seine Cloud gelegt, hat es mit einem Passwortschutz versehen, und er hat es außerdem gelöscht bevor er gegangen ist.

Er war immer so naiv, mein Marc. Deshalb hat er sich auch von diesem neuronalen Netzwerk mit Brüsten einwickeln lassen und ist mit ihr durchgebrannt. Alles ist ein großes Mysterium. Er ist Arzt, arbeitet rational, sollte man meinen, aber schreibt Tagebücher wie ein kleines Mädchen und geht in die Kirche und zündet Kerzen an.

Natürlich hat unser Cloudbetreiber regelmäßig Backups durchgeführt. Drei Klicks durchs Menü auf Wiederherstellen, Datumsangabe und die Datei ist wie durch Zauberhand zurück im Ordner. Ganz ohne Kerzchen, Stoßgebete oder Ritualwerk. Voilà, einfach so. Ich kann mir gut vorstellen, wie überrascht er gewesen wäre, wenn er es wüsste.

Sein Passwort ist etwas kniffliger. Ich hab keine Ahnung was es sein könnte. Ich probier ein paar zusammengesetzte Begriffe mit Zahlen aus. Irgendwas mit Kim wahrscheinlich. Zum Glück kann man es beliebig oft ausprobieren. Und was liegt näher, als einen kleinen Algorithmus zu schreiben, wenn man das kann, mit Java oder Python zum Beispiel, der alle möglichen Kombinationen aus Buchstaben-, Zahlen- und Sonderzeichen durchiteriert? Eine kleine Kim sozusagen, etwas dümmer, aber prinzipiell vergleichbar... Seit zwei Tagen läuft der Rechner, auf dem er sonst immer seine Spiele gespielt hat, jetzt schon und gibt Kombinationen in das Passwortfeld ein, fünf paralle Threads. Es ist nur eine Frage von Tagen, Stunden, Minuten oder Sekunden, bis ich Zugriff habe.

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