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"Ist anscheinend nicht so gut gelaufen", kommentierte Liam mit einem amüsierten Grinsen, wie Harry sich bemühte, aus eigener Kraft mit seinem Rollstuhl wieder nach Innen zu gelangen.

Die grünen Augen des Braunhaarigen funkelten Liam einen Moment böse an, doch dieser machte sich nichts daraus. Stattdessen lächelte er weiterhin in sich hinein.

Hätte Liam gesehen wie Marnie sich weinend auf der Treppe zusammengekauert hatte, hätte er Harry anderweitig zurechtgewiesen. Da er aber kurz vor dem Vorfall gezwungenermaßen einen neuen Platz in dem Aufenthaltsraum suchen musste, hatte er die Schwester nicht durch das Fenster hindurch weinen sehen können. Genauso wenig, wie Doktor Ackles sie mehr oder weniger tröstete.

Er beobachtete mit einem schiefen Grinsen, wie der grimmige Harry seine von den Reifen seines Rollstuhls staubigen Hände an seiner Hose abklopfte.

"Sag einfach nichts", presste Harry vielleicht in einem groben Ton hervor, konnte sich aber eigentlich nicht über Marnies Reaktion ärgern - so gerne er auch wollte. Er wusste, dass er mit ihr gesprochen hatte, wie man niemals mit einem Mädchen sprechen sollte. Er hatte sie behandelt wie ein Stück Dreck und wusste, dass seine Mutter ihm vermutlich einen langen Vortrag gehalten hätte, wenn sie davon Wind bekommen hätte.

Das einzige, was er nicht wusste, war, dass er Marnie mit seiner Aktion nicht nur dem Arzt sondern inzwischen auch schon dem wie er glaubte verschmähten Pfleger in die Arme getrieben hatte.

Dieser hatte es sich nachdem die Rothaarige wieder hereingekommen war zur Aufgabe gemacht, sie ebenfalls aufzumuntern, ein wenig zum Lachen zu bringen, indem er ihr scheinbar wahllose Geschichten erzählte. Er konnte das jungenhafte Grinsen auf seinen Lippen nicht mehr unterdrücken, als er sah, wie Marnie auch den Rest ihrer getrockneten Tränen wegwischte.

"Möchtest du vielleicht heute Abend mit James, Liz und mir ausgehen?", fragte er Marnie als er sie gerade von Lissy entführt hatte, um vor der großen Treppe mit ihr zu sprechen.

Um das nervöse Schlagen seines Herzens auszublenden schaute er lieber auf ihre Haare, die das helle Tageslicht in einem warmen Orangeton reflektierten.

"Ähm...", überlegte Marnie, wie sie absagen sollte, musste sich aber praktisch schon unter seinen blauen Augen einen Schubser geben, um zu fragen: "Wo wollt ihr denn hin?"

"Wir gehen immer in diesen Diner bei der Lancester Road", erklärte Louis und erlaubte sich, ein leichtes, vorfreudiges Strahlen in seinem Gesicht durchscheinen zu lassen. "Nicht allzu lange, aber es macht dort normalerweise echt Spaß", versuchte er das Ganze Marnie noch näher ans Herz zu legen. Diese überlegte schon, wie weit dieser Diner von ihr Zuhause weg war. Sicher hatte sie ihn schon vorher gekannt; sie lebten nicht gerade in einem großen Ort und tatsächlich hatte sie ihn auch schon einige Male mit ihren damaligen Freundinnen besucht.

Seit sie aber ihre Freundinnen nicht mehr hatte, hatte sie auch den Diner nicht mehr betreten.

"Wenn die beiden nichts dagegen haben, komme ich gerne", antwortete sie ihm und biss sich kurz auf die Unterlippe, sagte sich, dass das ein guter Schritt nach vorne wäre. Sie einen guten Weg anschlug indem, was Jensen ihr mehr oder weniger vorgeschlagen hatte.

"Super." Louis grinste zufrieden und Marnie musste über seine Reaktion sogar leicht schmunzeln.

"Wann möchtet ihr euch denn dort treffen?", hakte sie nach und wippte von einem Fuß auf den anderen, während sie versuchte, nicht anzufangen, mit ihren Fingern herumzuspielen.

"Gegen 8, ich kann dich aber auch abholen kommen", bot er unterschwellig hoffend, dass sie zusagte, an. Louis war egoistisch genug, um sich zu denken, dass er wenigstens den Weg zum Diner mit Marnie alleine sprechen wollte. "Das ist nicht nötig, ich brauche nur fünf Minuten bis dort hin", winkte Marnie höflich ab und ließ dabei außer Acht, wie ihre Eltern wohl reagieren würden, wenn sie sich von einem Mann abholen ließe. Nach dem gesamten letzten Jahr mussten sie glauben, dass sie nie wieder eine Person des anderen Geschlechts an sich heran ließe und um ihnen keine falschen Hoffnungen zu machen, sollten sie auch weiterhin so denken. Schlichtweg war es ja auch genau so.

"Sicher?" Louis lächelte leicht, worauf Marnie ihm versicherte: "Ja." Mit einem letzten unbewusst charmanten Lächeln machte Marnie Kehrt, um sich wieder an die Arbeit zu machen, die große Treppe nach oben zu gehen, um Lissy wieder beim Sortieren der Medikamente zu helfen.

"Hat Louis dich gefragt?", grinste die Blonde sofort als sie Marnie im Türrahmen stehen sah und ließ einen Moment von den Pillen ab, um sie anzuschauen.

"Ja." Marnie biss sich auf die Unterlippe und nickte schüchtern. "Das freut mich, das wird echt gut." Die Blonde schaute Marnie erwartungsfreudig an, worauf diese den kleinen Raum betrat. "Hoffentlich." Mit einem filigranen Schmunzeln trat Marnie heran und zog sich eine der Akten heraus, um die Medikamente bereit zu legen.

"Weißt du, es hat sich rumgesprochen, dass du einen Patienten alleine gelassen hast", offenbarte Lissy mit einem amüsierten Grinsen, worauf Marnies Augen sich panisch weiteten.

Ihr war bewusst, dass sie einen ziemlich dramatischen Abflug gemacht hatte, aber sie hatte nicht gedacht, dass jemand es als so wichtig erachtete hatte, als dass man es jemandem weitererzählen konnte.

"Bin ich in Schwierigkeiten?", fragte sie etwas ängstlich und wollte nicht einmal daran denken wie es wäre, wenn Mrs. Andrews sie anschreien würde. Vermutlich würde sie schneller quer durch den Wald nach Hause rennen, als es je jemand hätte tun können.

"Nein, Harry ist bekannt dafür eher schwierig zu sein", offenbarte sie der Rothaarigen, die neugierig ihre Stirn runzelte. "Ich glaube jeder hier wollte ihm schon mal einen Denkzettel verpassen", würgte Lissy das Thema schon sofort wieder ab, um mit einem leicht amüsierten Lächeln auf Marnie zu schauen, deren Augen vor Neugier fast schon aus ihrem Schädel sprangen.

Man konnte genau nachvollziehen, wie sie abwägte, wie unpassend es war, genauer nachzuhaken.

Um den heute fast schon als Redefluss zu bezeichnende Geselligkeit des Mädchens nicht wieder zu minimieren, erzählte Lissy schon von ganz alleine: "Er ignoriert eigentlich jeden wenn er nicht gerade mit seiner grausigen Stimmung um sich wirft und andere wahllos beleidigt."

Marnie nickte verständnisvoll. Tatsächlich empfand sie etwas wie Empathie für diesen Mann, obwohl sie selbst schon Opfer seiner Stimmungsschwankungen geworden war. An manchen Tagen wollte sie fast so wie Harry handeln, alle mit Beleidigungen so weit wie möglich von sich stoßen, statt immer mit zusammengebissenen Zähnen durch die Welt zu laufen und so zu tun, als hätte sie nur ansatzweise die Kontrolle über ihr in Scherben liegendes Leben.

"Manchmal frage ich mich, was sie alles dort gesehen haben", murmelte Marnie und blendete aus, dass sie es fast hätte wissen können.

Wäre er zurückgekehrt, hätte er ihr sicherlich von jedem Detail ausführlichst berichtet. So wie er es immer getan hatte und so wie sie es geliebt hatte. Seine Stimme konnte einem einfach alles näher bringen.

"Wenn ich manchen in die Augen sehe, kann ich es mir allzu gut vorstellen", beantwortete Elisabeth und musste selbst für einen Moment ihre Gedanken davon abhalten, zu diesem düsteren Ort abzudriften, der jedem hier Arbeitenden drohte zu nahe zu kommen.

Marnie hörte ruhig auf ihre Worte, nahm unbemerkt einmal kurz den Ring an ihrer Kette in die Hand, um ihn einmal zwischen Daumen und Zeigefinger zu drehen. Sie konnte es einfach nicht sein lassen.

Ihre blauen Augen verweilten viel zu lange im Nichts, denn als sie ihren abgelenkten Blick hob, bemerkte sie, dass die braunen Augen ihrer Arbeitskollegin irritiert auf dem kleinen Schmuckstück ruhten, das von einem einzigen Detail zu einem ganz anderen Anlass definiert wurde.

Mit einem ertappten Räuspern packte sie die Kette wieder sicher in ihrem zu engen Kostüm ein. Am Blick von Lissy sah Marnie, dass diese mehr als eine knappe Antwort von ihr erwartete, doch sie wollte und konnte ihr keine geben.

"I-ich bringe das schon mal einem Patienten", stammelte sie kaum dass sie es gesehen hatte und biss sich fest auf die Unterlippe, um ihren plötzlich zittrigen Atem zu verstecken. Obwohl sie keine Antwort bekam, griff sie nach dem ersten Tablett, um eines der Medikamentschächtelchen darauf zu legen und damit in den Händen geradewegs zum richtigen Zimmer zu gehen.

Lissy blieb mit geöffnetem Mund zurück.

The Lone Trooper (h.s.)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt