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"Das wird schon", konnte Marnie von Lissys Lippen lesen, als sie schon im Zug saß und ihr Herz sich nicht mehr zu überschlagen aufhörte. Um Gottes Willen, worauf ließ sie sich gerade nur ein.

Ihr Atem klang zittrig, als sie versuchte, irgendwie die Fassung wieder zu erlangen.

Sie hatte schon das Ticket zeigen müssen, doch hielt es nach wie vor in ihren stark bebenden Händen, die wohl auch bis zum Ende der Fahrt nicht ruhiger werden würden.

Lilian hatte ihr gepredigt, in Holmes Chapel angekommen einfach jemanden auf der Straße nach Harrys Familie zu fragen, während ihr Vater ihr nur mitgeteilt hatte, dass sie auf sich aufpassen sollte. Es passierte nicht alle Tage, dass das eigene Kind alleine so weit durchs Land reiste.

"Ist hier frei?", schreckte eine Männerstimme sie aus ihren Gedanken und sie brabbelte etwas wie ein "Ja" vor sich hin, um automatisch ihre Tasche näher an sich heran zu ziehen, damit Platz genug war.

"Vielen Dank, Miss." Der dunkelhaarige Mann lächelte kurz, um seinen Aktenkoffer auf seinen Schoß zu legen, und sich neben der jungen Frau hinzusetzen.

Auch wenn er sich selbst als zu alt erkannte, schaute er kurz zu ihr herüber und schaute das blassblaue Kleid an, das die hübsche junge Frau trug. Seine Frau hatte vor einigen Jahren ähnliche Kleider getragen, aber seit der Geburt ihrer Kinder damit aufgehört. Heute Abend, wenn er sie nach der Dienstreise wiedersah, würde er sie daran erinnern.

~*~

"Machst du Fortschritte?" Anne stand mit einem Glas Apfelsaft in der geöffneten Garagentür, während Harry damit zu kämpfen hatte, sich nicht am unteren Teil des Autos den Kopf zu stoßen.

"Ich weiß es ehrlich gesagt nicht." Sein linker Mundwinkel zuckte kurz und er setzte sich auf, um dankend das Glas entgegenzunehmen, vorher seine Hände an dem Lappen abzuwischen, der schon längst nicht mehr weiß war.

"Noch steht das Angebot... Wenn du jetzt schnell duschst, dann schaffst du es noch", bot Anne zum wiederholten Mal an und schürzte ihre heute rosenholzfarben gemalten Lippen, während sie sah, wie Harry den ersten Schluck nahm und sich anschließend den Mund abwischte.

"Danke Mum, ich bleibe lieber hier." Er schaute ihr in ihre braunen Augen und biss sich kurz auf die Unterlippe.

Harry wusste nicht, dass Marnie in diesem Moment schon den Bahnsteig verlassen hatte und nur knapp drei Kilometer von ihm entfernt nach irgendjemandem suchte, der ihn kannte, und ihr seine Adresse nennen konnte.

Er lag gerade wieder mit dem Schraubenschlüssel halb unter dem Auto verborgen, als er die kleinen Füße seiner Schwester sehen konnte. Ohne Rücksicht auf Verluste rutschte er hervor und gab sein bestes, sie zu erschrecken.

"Harry." Kopfschüttelnd kicherte Drew zur Antwort und verschränkte ihre Hände miteinander.

"Viel Spaß bei Tante Mary", wünschte Harry dem kleinen Mädchen und streckte demonstrativ langsam seine Hand nach ihr aus, sodass sie genug Zeit hatte, sich vor dem Kontakt, der zu einem Fleck geführt hätte, zu retten.

"Ihh", sagte sie leise und stolperte beinahe, was Harry diesen Scherz sofort bereuen ließ und fast dazu führte, dass er aufsprang, um sie aufzufangen.

"Danke", fügte sie aber noch hinzu als sie sich ausbalanciert hatte und schenkte ihm eines ihrer typischen Drew-Lächeln, die sein Herz aufgehen ließen.

~*~

"Entschuldigung?" Marnie biss sich schüchtern auf die Unterlippe, als sie inzwischen schon die fünfte Person ansprach, um irgendwie nach dem Weg zu fragen. Im Moment ging sie durch eine dieser ruhigen Straßen, die praktisch aus Vorgärten zu bestehen schienen. Dabei hielt sie immer Ausschau nach Menschen, die aussahen, als könnten sie ihr irgendeine Auskunft geben.

"Ja?" Der Mann, wohl etwas älter als ihr Vater, schaute von dem Beet auf, das er gerade mit einer Gießkanne bewässerte und Marnie räusperte sich.

"Ich bin auf der Suche nach jemandem, leider habe ich den Zettel mit der Adresse verloren. Können Sie mir vielleicht sagen, wo ich Anne Styles finden kann?", erzählte sie dem Man das, was sie auch den anderen erzählt hatte. Das kleine erflunkerte Detail bezüglich des Zettels mit der Adresse sah sie dabei als notwendig an, um nicht als geisteskrank abgestempelt zu werden.

"Entschuldigung, das sagt mir leider nichts."

"Oh, trotzdem vielen Dank für die Hilfe." Jegliche Unsicherheit wurde von ihr heruntergeschluckt, als sie die Tasche wieder vom Boden heben wollte, und sie wollte gerade gehen, als der Mann ihr einen Tipp gab: "Eine Straße weiter um die Ecke ist ein Blumenladen, vielleicht können sie da mal nachfragen, es ist der einzige im Ort. Vielleicht weiß dort jemand die Adresse."

Während er sprach wurden einzelne Worte von seinem dichten Schnauzer verfälscht, doch Marnie verstand trotzdem.

"Das klingt gut, dankeschön. Haben Sie noch einen schönen Tag." Sie nickte schmunzelnd und der Mann wünschte ihr noch eine erfolgreiche Suche, bevor er sich ebenfalls verabschiedete und wieder seiner Gartenarbeit widmete.

~*~

"Verfluchte Scheiße." Harrys tiefe Stimme war vor Rauigkeit kaum zu verstehen, als er feststellte, dass unter der Motorhaube noch mehr kaputt war, als er ursprünglich vermutet hatte.

Für einige Momente versuchte er, selbst einen Lösungsweg zu finden, doch schnell begriff er, dass er dazu nicht gut genug war, und nahm stattdessen das Buch vom Werkstatttisch, das Anne ihm gegeben hatte. Dort konnte man sich belesen und ansatzweise erfahren, was zu tun war, wenn ein bestimmter Zustand eines Teils der Fall war.

Seine Finger waren so verklebt vom Öl, dass er es auch mit einem Tuch nicht mehr abbekam. Also ging er leise vor sich hin fluchend wieder ins Haus, um sich dort mit Seife den Schmutz abzuwaschen. Sein Baumfällerhemd krempelte er bis knapp unter die Ellbogen hoch und wischte auch seine Haare nach hinten, sodass sie ihm nicht mehr die Sicht versperrten.

In der Garage angekommen, las er mit seinen dunkelroten Lippen zu einer Schnute gezogen aufmerksam die Informationen durch, die dieses Buch ihm zu dem betroffenen Teil des Autos gab. Dabei musste er erneut feststellen, dass es mehr als umständlich formuliert war und er jeden Satz mindestens drei Mal lesen musste, um es n zu verstehen und dabei nicht den Überblick zu verlieren.

Gerade wollte er gegen das Auto gelehnt das Buch durch die geöffnete Tür auf den Rücksitz pfeffern, als er sich einbildete, aus dem Augenwinkel etwas zu sehen, das ihm Herzpochen bescherte.

Nein, das konnte nicht sein.

Sofort schlug er das Buch zu und musste sich beherrschen, nicht aus der Garage zu stürmen, doch wie oft hatte er sich schon in dieser Hinsicht getäuscht?

Trotzdem - in diesem Moment ließ es ihn nicht los, dass er geglaubt hatte, jemand besonderen dort vorbei huschen zu sehen.

Harry war im Zwiespalt sich seiner Sehnsucht ein weiteres Mal zu beugen, oder ihr zu widerstehen und den wahren Tatsachen ins Auge zu blicken.

Seine Entscheidung fiel auf zweiteres und er war wirklich gewillt, dieses Gefühl zu ignorieren und nicht mehr nachzusehen; nicht dass nach knapp fünf Minuten der Ratlosigkeit überhaupt noch jemand in Sicht sein würde. Doch nach besagten fünf Minuten konnte er sich nichts mehr vormachen, und ging durch die geöffnete Garagentür nach draußen, um einmal nach links und rechts zu sehen.

Mit einem Seufzen ging er bis zum Gehweg, um zu sehen, ob diese Person noch am Straßenrand entlangging, und als er rein niemanden sehen konnte, ließ er geschlagen die Schulter sacken und machte Kehrt.

Als er dann aber sah, wer überfordert vor Haustür ihres Hauses verschwinden wollte und bis dahin von Annes Rosenbüschen verdeckt worden war, rutschte ihm sein Herz wahrhaftig in die Hose.

Er stand ihr einige Meter entfernt gegenüber und konnte sein eigenes Herz pochen hören, während Marnie glaubte, dass ihres zum Stillstand gekommen war, und ihre Tasche fallen ließ.

The Lone Trooper (h.s.)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt