Kapitel 32 - Forderungen

156 9 7
                                    

Ich rannte fast. Meine Füße berührten den Boden in einer Geschwindigkeit, die nur noch mit Mühe als Gehen gewertet werden konnte. Ich spürte seinen Blick in meinem Rücken und ich spürte die Gänsehaut, die mich immer überkam, wenn ich ihm den Rücken zudrehte. Aber ich durfte keine Schwäche zeigen. Und es waren ja nur noch etwa dreihundert Meter bis zu meinem Auto. Dreihundert Meter, die sich anfühlten wie ein Marathon in der Wüste. 
Immer darauf bedacht, bloß nicht zu rennen, fixierte ich mich nur auf mein Auto, das friedlich dort am Straßenrand stand und wartete. 
Zweihundert Meter.
Meine Hand schob sich ganz automatisch in meine rechte Jackentasche. Dort klapperte mein Autoschlüssel erwartungsvoll. Ich schloss meine Finger um das kalte Aluminium und zog meine Hand dann wieder langsam aus der Tasche. Mein Blick fiel auf den vertrauten Schlüsselanhänger daran. Eine Acht. Doch heute schienen mich daraus zwei unheimliche Augen anzuschauen und ich beschleunigte meine Schritte nur noch mehr. 
Einhundert Meter. 
Inzwischen hatte ich den Hof überquert und trat auf die asphaltierte Straße. Unter meinen Füßen knirschten  kleine Steinchen. Mein Herz klopfte immer schneller. Die Blätter an den Bäumen über mir raschelten verheißungsvoll, als sprächen sie mir leise Warnungen zu. 
Fünfzig Meter. 
Ich hielt es nicht länger aus. Die letzten Meter rannte ich zu meinem Mercedes hinüber. Beinahe panisch riss ich die Tür auf, quälte den Schlüssel ins Zündschloss und fuhr mit quietschenden Reifen davon. Viel zu schnell jagte ich die verlassene Straße entlang, bis ich endlich wieder in die Stadtmitte kam und meine Herzfrequenz langsam wieder niedriger wurde. 

Auf einem Aldi-Parkplatz parkte ich mein Auto, schaltete es aus und lehnte den Kopf mit geschlossenen Augen an die Kopflehne. Was sollte ich denn jetzt machen? Ich hatte zwei Optionen. Ich könnte die Forderung des Alten ignorieren und Ana weiter bei mir verstecken, bis man sie finden würde und wir beide nur noch größere Schwierigkeiten hätten. Oder ich mache das, was er will, und alle Sorgen wären auf einen Schlag beseitigt. Da wäre nur das Problem, dass ich an der Legalität der ganzen Sache ziemlich stark zweifelte. Obwohl ich ja derjenige war, der hier erpresst wurde. Abgesehen davon... Wer versprach mir, dass er sein Wort halten würde?
Ich würde es nie wissen, wenn ich es nicht riskierte. Es bestand doch irgendwie wenigstens die Chance, dass alles gut werden würde. 
Plötzlich musste ich an Max' Worte denken. Er war für mich da, wenn ich in Schwierigkeiten steckte. Vielleicht sollte ich zu ihm fahren und ihn nach seiner Meinung fragen? Aber ich kannte sie eigentlich schon. Und außerdem wusste er ja nicht einmal, dass Ana bei mir zuhause darauf wartete, dass ich vom Training heim kam. 

Ich haderte noch einige Minuten mit mir. Dann schließlich startete ich den Motor des Mercedes wieder und fuhr langsam vom Parkplatz hinunter. 
Nur zehn Minuten später hielt ich erneut und stieg aus dem Wagen. Ich ging auf das große Gebäude mit der gläsernen Eingangstür zu und ging ohne weiter zu überlegen hinein. 

"Was kann ich für Sie tun?", fragte der junge Mann hinter dem Tresen sofort. Er war vielleicht fünf Jahre älter als ich selbst. 
Ich schob ihm meinen Ausweis über den Tresen. 
"Ich hätte gerne einen Barscheck über 100.000 €", murmelte ich mehr, als dass ich sprach. Die Frau am anderen Tresen sah neugierig zu mir hinüber. Ich ignorierte sie und achtete stattdessen nur auf den Mann vor mir. 
"Natürlich, Herr Goretzka", meinte er nur, ließ sich nicht anmerken, dass er mich erkannt hatte und lief emsig durch die Gegend. 

Es dauerte eine Weile, bis ich mit meinem Scheck in der Hand endlich aus dem Gebäude gehen konnte. Dabei kreiste meine Lüge die ganze Zeit in meinem Kopf umher. 
"Wird der Scheck für Spendenzwecke benötigt?"
"Ja, ganz genau."
Diese simple Lüge machte mich fertig. Aber ich hatte eine Entscheidung getroffen. 

Und so machte ich mich zum zweiten Mal an diesem Tag auf dem Weg zu dem abgelegenen, alten Farmhaus. 
Diesmal parkte ich mitten vor der Haustür, obwohl ich mir dabei extrem beobachtet vorkam. Aber dadurch würde ich mir den Nerven zerreißenden Rückweg sparen. 
Mit langsamen Schritten ging ich erneut zur Tür und klingelte. Es dauerte keine Minute, bis sie aufgerissen wurde. 
"Na, geht doch", brummte der alte Mann, als ich mit zittrigen Fingern den Scheck aus meiner Jackeninnentasche kramte. 
"Versprechen Sie mir, dass Sie die Anzeige zurück nehmen!", forderte ich mehr kläglich als bestimmt. 
"Gibt schon her!", knurrte der Alte allerdings nur und riss mir den Scheck aus der Hand. Sekunden später fiel die Tür mit einem Krachen ins Schloss und um mich herum machte sich eine erdrückende Stille breit. 
Mein Geld war weg und jetzt konnte ich nur hoffen, dass das gleiche auch mit Anas Anzeige geschehen würde. 

Ich riss mich aus meiner Starre, ging zurück zum Auto und fuhr dieses Mal auf direktem Weg nach Hause. Auf meiner Hofeinfahrt sprach ich mir selbst Mut zu und versuchte, alle Gedanken zu verdrängen und einen völlig normalen Eindruck zu machen. 

Kaum hatte ich die Tür aufgeschlossen und war in den Flur getreten, kam Ana um die Ecke und lehnte sich mit einem leichten Lächeln an den Türrahmen zum Wohnzimmer. 
"Hey", begrüßte sie mich. 
"Hey", lächelte ich zurück und hängte dann schnell meine Jacke an die Garderobe, um sie nicht ansehen zu müssen. Ich hatte Angst, dass sie mir die Wahrheit sofort von der Stirn ablas. 
"Wie war das Training?"
"Endlich mal wieder völlig normal", erzählte ich ihr erleichtert über das unverfängliche Thema. 
"Das freut mich." Ich sah wieder zu ihr und erkannte in ihrem Blick, dass sie das wirklich ernst meinte. 
"Hast du Hunger?", fragte ich dann schnell, um aus dem engen Flur raus zu kommen. 
"Ähm, ja... klar."

Ana schien zu merken, dass ich ihr aus dem Weg ging, aber ich konnte ihr einfach noch nicht wieder in die Augen sehen. Deshalb war ich die meiste Zeit ziemlich abwesend, bis sie schließlich doch wieder meine Aufmerksamkeit auf sich zog. 
"Leon, ich hab nachgedacht, als du weg warst. Ich denke, ich werde mich stellen", sagte sie völlig aus dem Kontext gerissen. Ich sah sie erschrocken an. 
"Ich will dir keine Schwierigkeiten machen."
"Du musst das nicht machen. Er wird die Anzeige zurück nehmen", meinte ich hektisch. 
"Was?" Jetzt war es an Ana, mich schockiert anzusehen. 
"Ich war dort und habe ihn darum gebeten", erklärte ich dann kurz. 
"Einfach so?"
"Ja, einfach so", bestätigte ich ihre Frage und schluckte heftig. Ana fiel mir sofort überglücklich um den Hals. Ich war einfach nur froh, dass sie dadurch meine feuchten Augen nicht bemerkte. Mit zusammengekniffenen Augen legte ich meine Arme um ihren schmalen Körper und vergrub das Gesicht in ihren weichen Haaren. Würde all das an die Öffentlichkeit kommen, war mein Leben so gut wie vorbei. Aber jetzt gerade tröstete mich Anas Freude etwas.
"Danke, Leon!", flüsterte sie leise und drückte mich nur noch fester. 

Und tatsächlich bekam ich am nächsten Morgen einen Anruf von der Polizei. Sie bestätigten mir, dass Anas Anzeige hinfällig war und ich schöne Grüße ausrichten sollte, wenn ich sie sehe. Der Sarkasmus in dem Worten des Polizisten blieb mir zwar nicht verborgen, aber ich war einfach nur erleichtert, dass der Typ Wort gehalten hatte.
Jetzt wurde es besser. Ich glaubte ganz fest daran. 

Good Boy - Bad Girl (Goretzka FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt