Kapitel 41 - Unbändige Angst

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Mein Kopf dröhnte und irgendwas hämmerte unentwegt von innen gegen meine Schädeldecke. Wie einzelne Fetzen kamen ganz langsam die Erinnerungen. Ich sah Blut. Meine Hände waren überströmt davon. Da war Anas regloser Körper. Ihr blasses, ausdrucksloses Gesicht. Da waren Schreie. Glassplitter, die sich in mein Gesicht bohrten. Und überall dieses viele Blut. Ich drohte, daran zu ersticken. 
Dann schreckte ich auf und ein stechender Schmerz fuhr mir in die Glieder. Ich schrie auf und sank sofort wieder zurück in die federleichten Kissen in meinem Nacken. 
"Leon! Mein Junge, ich bin hier. Es wird alles gut", rief sofort die aufgekratzte Stimme meiner Mutter. Sie war nur einen Moment später neben mir und hielt mein Gesicht schützend in ihren Händen. Doch auch sie konnte die Tränen nicht aufhalten. Die Tränen der Trauer, die mir augenblicklich über die Wangen liefen, als ich realisierte, was passiert war. Als mir bewusst wurde, dass ich das Mädchen, das ich so sehr liebte, verloren hatte. 

Ich weinte noch eine ganze Weile. Doch irgendwann versiegten meine Tränen und meine leere Hülle starrte an die Decke und fragte sich unentwegt, wie ich damit leben sollte. Konnte ich je wieder lächeln mit dem Wissen, dass ich dafür verantwortlich gewesen war? Dass ich einfach gegangen war und Ana ihrem Schicksal überlassen hatte?
Ich glaubte, dass viele Leute mit mir sprachen. Da waren immer wieder Rufe und Stimmen, die aber nicht zu mir durchdrangen. Viel zu laut waren die Schuldgefühle in meinem Kopf. Viel zu deutlich spürte ich den Schmerz des Verlustes in meiner Brust. Dort klaffte jetzt ein großes Loch. Denn ich hatte mir mit aller Gewalt selbst einen Dolch ins Herz gerammt. 

Irgendwann spürte ich, wie die Dunkelheit über mich herein brach. Dann war es wieder so angenehm ruhig und schwarz. Für den Moment war ich wieder frei von jeglichen Gefühlen. 

"Das Beruhigungsmittel muss doch bald nachlassen", murmelte jemand. 
"Er wird bald aufwachen. Leon ist ein Kämpfer." Mein Dad. Es war die Stimme meines Dads. 
"Ich habe Angst, dass er das nicht verkraftet. Du hast ihn doch gesehen." Meine Mutter klang weinerlich. Sie schien mit den Tränen zu kämpfen oder weinte bereits. 
Dann hörte ich ein Poltern und Schritte. 
"Dieser verdammte Volldepp! Warum muss Leon nur immer irgendeine Scheiße bauen?!" Diese Stimme kannte ich auch nur zu gut. Nur die Sorge und Verzweiflung darin waren mir nicht allzu vertraut. Schließlich weinte er nicht gerne vor mir. 
"Schön, dass du gekommen bist, Max", flüsterte meine Mom. Dann war es kurz still und ich hörte nur das Rascheln von Stoff, bevor sich Schritte näherten. Anschließend sackte eine Seite des Bettes unter mir ein bisschen weg und ich bemerkte die warme Hand an meiner Wange. 
"Was machst du nur für Sachen, du Idiot?", murmelte Max, ehe er seine Hand wieder weg nahm und sie stattdessen auf meinen Arm legte. 
"Wir gehen kurz mal an die frische Luft, okay?", meinte dann mein Dad. Kurz darauf fiel eine Tür ins Schloss. Aber die Wärme, die Max' Körper neben mir ausstrahlte, blieb weiterhin. 

"Es ist nicht deine Schuld, Leon", flüsterte er dann und nahm meine Hand in seine. "Keine Ahnung, ob du mich hörst, aber du sollst wissen, dass dir niemand die Schuld gibt. Du hast so viel durchgemacht. Ich hätte wissen müssen, dass es so weit kommt. Ich hätte besser auf dich aufpassen sollen. Die Ärzte kriegen das schon wieder hin. Deine Schulter wird wieder komplett heilen und dann kannst du wieder Fußball spielen." Meine Schulter? Was war damit? Dann erinnerte ich mich an den stechenden Schmerz und wusste ihn plötzlich einzuordnen. Die Badtür war zu widerstandsfähig für mich gewesen. Ich war schließlich wohl kaum ein Stuntman oder so cool wie James Bond. Ich hätte es wissen müssen. 
"Die anderen wollten auch schon kommen, aber ich habe sie abgewimmelt. Ich dachte, dass du lieber alleine sein möchtest. Aber ich bleibe hier. Ich habe Domenico schon Bescheid gegeben, dass ich dieses Krankenhaus nicht verlasse, bis du hier wieder raus kommst. Also komm gar nicht erst auf die Idee, mich hier rauszuschmeißen. Ich gehe eh nicht." In seiner Stimme schwang ein Lächeln mit. Und irgendwie fand ich die Kraft, seine Hand zu drücken. Um die Augen zu öffnen, reichte es noch nicht. Aber irgendwie musste ich ihm zeigen, dass ich ihn sehr wohl hörte. 
"Scheiße, Leon! Hast du eine Ahnung, was für eine scheiß Angst du mir gemacht hast?" Ich konnte es mir gut vorstellen. Aber ich sah auch das breite Grinsen auf Max' Gesicht vor meinem inneren Auge und verzog sofort den Mundwinkel ein kleines Stückchen. 
"Mach die Augen auf!", forderte Max dann sanft. Er wartete geduldig, während ich einen kleinen Kampf mit meinem Körper ausfocht und schließlich ins helle Licht im Krankenzimmer blinzelte. Erst war mein Blick verschwommen, aber dann erkannte ich Max, der mit einem glücklichen Lächeln auf der Bettkante saß und immer noch meine Hand umklammerte. 
"Hey", krächzte ich leise. 
"Wie fühlst du dich?" Max sah mich besorgt an, aber sobald er meinen Blick sah, verzog er das Gesicht zu einer Grimasse. 
"Sorry, blöde Frage", murmelte er. Ich lächelte leicht und drückte noch einmal seine Hand. 
"Deine Eltern haben mir erzählt, was passiert ist. Leon... ich... Wie verkraftet man sowas?" Da war wieder die Verzweiflung in seiner Stimme und diesmal sah ich sie auch in seinem Blick. 
"Gar nicht", flüsterte ich nur. 
"Aber es wird wieder alles gut. Das verspreche ich dir! Heiliges Meyer-Ehrenwort." Er hielt die Finger seiner anderen Hand gekreuzt nach oben und lächelte. 
"Wie denn, Max? Wie soll ich das ohne sie schaffen?" Sofort rann mir wieder eine Träne über die Wange. Ich wischte sie schnell mit der Hand weg, die Max nicht festhielt. Die Schuldgefühle drohten mich wieder zu übermannen. Deshalb konzentrierte ich mich auf Max und versuchte seinen Blick zu deuten. 
Er schien verwirrt und legte die Stirn in Falten. Dann sah ich förmlich, wie ihm eine Erleuchtung kam, bis er mich schließlich mit geweiteten Augen anstarrte und hektisch mit einer Hand herumfuchtelte. 
"Nein, Leon. Oh mein Gott, nein! Du denkst... also du..." Er schluckte schwer, ehe er sich wieder beruhigte und beschwichtigend lächelte. 
"Ana ist nicht tot, Leon. Okay, ich kann auch nicht behaupten, dass es ihr gut geht. Aber die Ärzte haben sie stabilisiert und schon bald sollte sie wieder aufwachen. Sie hat überlebt, weil du sie gerade noch rechtzeitig gefunden hast. Du hast ihr das Leben gerettet, Leon!"

Diese Erkenntnis sickerte nur ganz langsam in meinen Kopf und als ich es verstand, setzte ich mich sofort unter Schmerzen auf. Ich musste sie sehen, ich musste wissen, ob Max Recht hatte. 
Doch bevor ich weiter kam, drückte Max mich bestimmt wieder zurück in die Kissen. 
"Hör zu, Leon! Deine Schulter ist zertrümmert. Du kannst nicht ohne einen Arzt hier raus. Und Ana ist noch nicht ansprechbar. Du dürftest sie nicht besuchen. Noch nicht. Ich rufe jetzt einen Arzt und dann halte ich dich auf dem Laufenden. Sobald sie aufwacht, wirst du es wissen. Und dann schmuggel ich dich hier meinetwegen auch raus. Aber solange musst du dich noch gedulden, okay?"
Mein Blick bohrte sich in die ruhigen blauen Augen des Blonden. Und schließlich sah ich ein, dass er mal wieder Recht hatte. Ich seufzte und nickte dann. 
"Das wird wieder, Leon", versprach Max mir erneut und drückte noch einmal meine Hand, ehe er aufsprang und aus dem Raum rannte. 

Good Boy - Bad Girl (Goretzka FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt