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Wie ich die nächsten Tage überlebte, wusste ich nicht. Wenn man es überhaupt als leben bezeichnen konnte. Aber ich tat es. Wenn auch mehr schlecht als recht, immer kurz davor Luzifers Warnung in den Wind zu schießen und doch einen Selbstmordversuch zu starten. Falls mich Luzifer von einem seiner Dämonen überwachen ließ, wovon ich ausging, bekam der jedenfalls eine ordentliche Show à la Psychothriller geliefert. Mein Verhalten glich der eines paranoiden Menschen, der jede Sekunde damit rechnete, auf eine äußerst bestialische Art und Weise ermordet zu werden. Oder dem einen an Schizophrenie Erkrankten, der befürchtete ein anderes "Ich" würde demnächst Amok-Laufen... Falls schizophrene Menschen so etwas überhaupt befürchteten. Ich kannte mich mit dieser Krankheit nicht besonders aus.

Jeder Tag glich dem vorherigen. Ich quälte mich aus dem Bett oder von der Couch, wenn der Wecker klingelte, um mir Bescheid zu sagen, dass ich zur Arbeit gehen musste. Ansonsten verkroch ich mich unter der Bettdecke oder saß zusammengekauert auf dem Wohnzimmerboden vor dem Fernseher. Dieser war die einzige Lichtquelle im Haus. Abgesehen davon war jedes einzelne Zimmer in völliger Finsternis gehüllt. Egal ob Tag oder Nacht, die Schalusien blieben geschlossen, die Vorhänge zu gezogen. Die leisesten Stimmen draußen auf der Straße ließen mich wie wahnsinnig die Wände anstarren, als würde dort jede Sekunde ein Geist erscheinen. Die irrationale Angst bei jedem Auto, das vorbeifuhr, es könnte sich dabei um jemanden handeln, der mich kannte und wieder zurück in die Klinik bringen wollte, damit ich zurück in die Geschlossene kam, wurde von Tag zu Tag schlimmer, bis ich irgendwann bei dem kleinsten Geräusch, das von Menschen erzeugt wurde, zusammenzuckte und meine Ohren angespannt spitzte, um ja sicher zu gehen, dass niemand versuchte die Tür zu öffnen. Notfalls mit Gewalt. 

Ich hatte Angst. Angst vor mir selbst und davor, dass der Zeitpunkt kommen würde, an dem meine Erinnerungen, mein Schmerz, wieder hervorbrachen. Ich wusste, dass er irgendwo tief in mir lauerte und auf einen kleinen Moment der Unachtsamkeit wartete. Nur eine kleine Sekunde, in der ich nicht aufpasste, und er würde wieder kommen. Mich zerstören. Meine Seele in winzige Fetzen zerreißen. Oder zumindest das, was von meiner Seele noch übrig war.

Ich war ein Wrack, ein psychisches Wrack, das dabei war von der Natur langsam aber sicher in seine Einzelteile zerlegt zu werden. 

Die Gedanken an meine Vergangenheit kamen und gingen, ohne dass ich ihnen wirklich Aufmerksamkeit zukommen ließ. Ich verbot es mir, sie zu mir durchdringen zu lassen. Verbot mir, ihnen auch nur die kleinste Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Meine irrationale Hoffnung war es, dass ich so die Wirkung Luzifers so lange wie nur irgend möglich behalten konnte. Dass ich es irgendwie schaffte bis Luzifers Rückkehr nicht wahnsinnig zu werden. Ich klammerte mich daran, als wäre es der letzte Faden, der mich davor bewahrte in einen tiefen, dunklen Abgrund zu fallen. Kein Aufprall. Keine Rettung. Nur ein langer, quälender Sturz in das Nichts. 

Aus diesem Grund war ich auch mehr als nur erstaunt, als ich bemerkte, dass diese Strategie nichts, aber auch überhaupt nichts, gebracht hatte. Und genau das war der Tag, an dem Alan wieder einmal auftauchte, um mir das Leben noch beschissener zu gestalten. 

Ich war auf dem Weg zur Arbeit. Ganz normal. Keine ungewöhnlichen Vorkommnisse. Keine verdächtigen Personen oder andere Kreaturen. Das einzig seltsame auf der Straße war ich, wie ich mit gesengten Kopf, umher irrenden Blicken und gehetzten Schritten über die Straßen eilte. Die Blicke der anderen Passanten sprachen jedenfalls eine deutlich Sprache. Sie mieden mich, betrachteten mich mit skeptischen Blicken. Eine Frau hatte sogar mit ihrem Kind die Straßenseite gewechselt. Doch das war okay, vollkommen in Ordnung. Je weniger ich mit Menschen zu tun hatte, desto besser. Und wahrscheinlich war es sogar von Vorteil, wenn man mir misstraute. Dann käme mein Selbstmordversuch oder Amoklauf, falls ich denn einen begehen würde, zumindest nicht ganz so überraschend für die Bevölkerung. Und für meine Psyche war es auch besser, weniger Menschen in der Nähe zu haben, die ich mit Leuten aus meiner Vergangenheit verwechselte. 

Ich wähnte mich bereits in Sicherheit vor dem Drang jemanden und sei es mir selbst weh zu tun, als ich lediglich nur noch einen Block, ich lief neuerdings immer zu Fuß zur Arbeit, von The Boom entfernt war, als ganz plötzlich, einfach so, Alan direkt vor mir auftauchte.

Als hätte er noch nie in seinem Leben etwas anderes getan, stand er in pechschwarzen Klamotten an einer alten Ziegelstein Mauer gelehnt, die definitiv schon bessere Tage gesehen hatte, und starrte mich an. Ich starrte zurück und hatte dabei nicht bemerkt, dass ich stehen geblieben war, bis er seine Hände aus seinen Jackentaschen nahm, sich von der Mauer abstieß und sich in meine Richtung in Bewegung setzte. Erst als der Abstand zwischen uns nur noch so zehn Meter betrug, kam in meinem Gehirn auch mal die Idee hoch, dass ich lieber verschwinden sollte. Immerhin hatte ich den ganzen Scheiß nur aus dem Grund an den Hacken, weil ich nicht auf Luzifer gehört und weiterhin mit Alan gesprochen hatte. Ob vorsätzlich oder nicht. Und der Fakt, dass Alan anscheinend unbedingt meine gesamte Hintergrundgeschichte aufdecken wollte, war auch nicht gerade beruhigend, wo ich ihn doch eigentlich einfach nur vergessen wollte.

Auf dem Absatz drehte ich um und begann meine Schritte zu beschleunigen. Als hätte ich tatsächlich geglaubt, ich könnte ihm entkommen.  

 Seine Hand schlang sich um meinen Oberarm, hielt mich dazu an, stehen zu bleiben. Ich hatte eh nicht die Kraft, mich von ihm loszureißen.

>Ich hab dir gesagt, du wirst mich nicht los<  Eher aus Reflex, als aus dem Bedürfnis heraus sein Gesicht zu sehen, löste ich meinen Blick von dem Kopfsteinpflaster zu meinen Füßen. Und hätte am liebsten wieder kehrt gemacht, die Beine in die Hand genommen und so schnell verschwunden, wie es uns Menschen nun mal möglich war.   

Zwischen Himmel und Hölle (slow updates)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt