Kapitel 4

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Helen:
Mein Kopf dröhnte. Mein nächster Patient wartete auf mich und dafür brauchte ich einen klaren Kopf. Ich stand auf und ging zum Spülbecken, das neben der Tür stand. Ich ließ eiskaltes Wasser in meine Hände laufen und tauchte mein Gesicht darin ein. Einige Sekunden verstrichen und ich hob mein Gesicht wieder an. Meine Augen waren schon seit Jahren tot. Die kleinen Stressfältchen die sich um sie geschmiegt hatten waren nur der äußere Beweis meiner Müdigkeit. Ich war müde von dieser Welt. Diese grausame, verdorbene Welt. Deshalb verschloss ich mich vor ihr. Niemand kam mehr an mich ran. Ich hatte mein altes, naives und dummes Ich in Deutschland zurückgelassen und war hier hergekommen um neu anzufangen. Ich hatte mich von Grund auf verändert und jetzt trat er wieder in mein Leben.
"Arschloch!", fluchte ich leise und schlug mit der flachen Hand auf das Waschbecken. Ich war den Tränen nahe. Er war diese Tränen nicht wert.
Ich weinte selten und wenn ich es tat, dann wegen Kindern, die auf meinem OP-Tisch zwischen Leben und Tod schwankten. Doch selbst dann zeigte ich diese Schwäche nicht. Niemandem. Menschen verstehen einen nicht. Sie versuchen es, aber sie können es nicht. Weil sie nicht in deiner Haut stecken und nicht in deinen Schuhen laufen. Aber sie denken, dass sie dich verstehen und das macht sie naiv. Angreifbar. Und vorallem verletzlich.

Ich ging mit erhobenen Händen in den OP-Saal rein und sah wie bereits alle um den Patienten herum standen. "Schon wieder", sagte ich leise, als ich das Messer in seinem Bauchbereich sah. So ein Anblick war keine Seltenheit mehr. Hier in LA waren solche Zwischenfälle noch harmlos.
"Ich hoffe ihr habt heute Abend noch etwas vor Leute, das hier wird nämlich nicht lang dauern", meinte ich grinsend. Meine neuen Kollegen verstanden meinen Sarkasmus selten aber wenn sie es taten, dann spielten sie ein Lachen vor.
'Ihr Spießer'. Die Einzige, die mich hier verstand war Judy, aber sie war seit dem Besuch bei ihm sehr zurückhaltend.
'Was hat dieser Idiot getan?', fragte ich mich selbst. Es war ein Wunder, wenn man Judy zum Schweigen brachte. Sie war wie eine Mutter für mich geworden, nachdem meine verstorben war. Sie hatte mich in dieser Zeit sehr unterstützt und dafür stand ich mein Leben lang in ihrer Schuld.

Ein sanftes Lächeln schmiegte sich um meine Lippen während ich die Wunde zunähte.
"You know the look in your eyes", summte ich leise vor mich hin und sah dabei Judy an.
"Can make all the mountains rise", fuhr ich fort.
"I'm really bad at freestyle", plötzlich kicherten alle in der Runde. Inklusive Judy. Sie hatte Tränen in den Augen. 'Ach, meine alte Judy.'
"But I hope your bad mood is..", ich überlegte kurz. "Vorbei?", brachte ich den Satz mit einem unsicheren Grinsen zu Ende. Der letzte Stich war vollzogen und der Faden wurde durchgeschnitten. Judy zog ihre Handschuhe aus und umarmte mich. "Yeah my bad mood is vorbei", lachte sie. "Okay okay. Genug Gefühle für heute", antwortete ich ebenfalls lachend.

"So Leute. Danke, dass ihr so ein wunderbares Team seid. Ich weiß jeden einzelnen von euch zu schätzen, ich hoffe ihr seid euch dessen bewusst", sagte ich nachdem alle die blutigen Handschuhe ausgezogen hatten und dabei waren den Raum zu verlassen. Alle starrten mich mit einem verwunderten Blick an.
"Leute bitte. Bin ich denn wirklich so hässlich?", fragte ich. Und dann kam es. Das Lachen, was Musik für meine Ohren war. Ellen kam zu mir und umarmte mich.
"Sie sind eine wunderbare Chefin", sagte sie.
"Ellen, bitte, ich bin nicht einmal 2 Jahre älter als du. Hör auf mich zu siezen", sagte ich ihr.
"Du bist die beste Chefin, Helen", korrigierte sie sich grinsend. Ich erwiderte ihre Umarmung, was auch die anderen zu verwirren schien. Sie waren es nicht gewohnt, dass ich so zu ihnen war. Ich hatte ihnen nie richtig gezeigt, dass ich jeden einzelnen von ihnen schätzte. Ich war seit langem nicht mehr gut in sowas, aber man musste sie daran erinnern.
"Der Patient ist so weit stabil", hörte ich eine Krankenschwester sagen, die zwischen der Tür stand.
"Gut. Halten Sie mich bitte auf dem Laufenden", antwortete ich knapp. Sie nickte und verließ anschließend den OP.
"Ich geh zu der Familie", warf ich in die Runde.
"Komm danach mit. Wir gehen etwas trinken", schlug Matt lächelnd vor. "Danke Matt, aber ich bin heute am Ende. Das nächste Mal ja?", gab ich lächelnd zurück.
"Ach komm, das sagst du jedes Mal", kritisierte er mich. Ich lachte.
"Das nächste Mal", wiederholte ich und Matt wusste, dass er mich nicht überzeugen konnte mitzukommen. "Na gut, aber wenn du es danach wieder verschiebst, dann schleifen wir dich mit", drohte er. Ich hob unschuldig die Hände und lächelte ihnen zum Abschied zu.

Ich ging den langen bleichen Flur entlang. Ich schaute auf meine Uhr.
'2 Uhr. Na super, wieder eine Nacht ohne Schlaf', ich seufzte. Ich erinnerte mich gar nicht mehr an die letzte Nacht, in der ich 4 Stunden am Stück geschlafen hatte.
Die Frau und der Sohn des Verletzten warteten bereits sehnsüchtig am Ende des Flures. Die Frau sprang sofort auf als sie mich sah und eilte unter Tränen auf mich zu.
"Ich kann sie beruhigen Mrs. Rupert. Ihr Ehemann ist in einem stabilen Zustand und es sollte keine Komplikationen mehr geben", versicherte ich ihr. Sie griff sich ans Herz und ließ sich immer noch weinend auf die Bank sinken. "Gott sei Dank. Ich danke Ihnen Doktor", schluchzte sie, sprang auf und fiel mir um den Hals. Ich erwiderte etwas zögernd ihre Umarmung obwohl es doch sehr unangenehm war. Das war für mich immer noch etwas gewöhnungsbedürftig.
Sie ließ mich anschließend los und versuchte sich zu beruhigen. Ich sah wie ihr Sohn, der um die 3/4 Jahre alt war noch weinte. Er versuchte die Tränen zurückzuhalten, aber es gelang ihm nicht.
"Doktor, ich müsste auf die Toilette, könnten Sie vielleicht für 2 Minuten auf ihn aufpassen?", fragte die Frau mich mit etwas Verzweiflung in der Stimme.
"Natürlich kann ich das, kein Problem", nickte ich lächelnd und ruhig.
"Vielen Dank", antwortete sie und ging in die Richtung des Wcs.
"Hey, na mein Großer? Das sind doch keine Tränen die ich da sehe, oder?", ich kniete mich zu dem Jungen und verengte lächelnd meine Augen. Er sah mich mit großen Augen und einem Schmollmund an. Aber er hatte aufgehört zu weinen. Jackpot!
"Ich meine für einen so großen und starken Jungen wie dich ist es kein Problem auf deine Mama aufzupassen bis dein Papa wieder gesund ist, nicht wahr?", fügte ich lächelnd hinzu. Er schüttelte noch etwas unsicher den Kopf.
"Dein Papa wird schon bald wieder nach Hause kommen und du wirst ihm erzählen, dass du deine Mama vor all dem Bösen da draußen beschützt hast. Stimmts oder hab ich recht?", fragte ich ihn. Er lachte. Na endlich.
"Jah", antwortete er anschließend. Er kam auf mich zu und umarmte mich. Ich legte meine Hand auf seinen kleinen, zierlichen Rücken und tippte ihm langsam drauf. Meine Kehle wurde plötzlich ganz trocken. Bei Kindern war ich immer emotional, egal wie stark ich es auch unterdrückte. Eine kleine Träne versuchte sich in mein Auge zu drängen, doch ich schluckte es herunter. Ich ließ ihn anschließend los und sah ihn an.
"Versprochen?", ich hob meinen kleinen Finger an. "Verschplochen", gab er mir als Antwort und verewigte mit seinem zärtlichen kleinen Finger den Schwur.
Ich sah wie die Frau zurückkam. Ihr Sohn rannte auf sie zu und umarmte sie. "Mama, ich bin dein Beschwützer", grinste er sie an. Sie sah ihn zunächst mit großen Augen an, dann mich, dann wieder ihn und anschließend lachte sie. Ich richtete mich auf und verabschiedete mich von der Frau. Ich sah ihr nach wie sie mit ihrem Sohn den langen Flur entlang ging.
"Du konntest schon immer gut mit Kinder umgehen", hallte es von Nahem in mein Ohr. Ich erschrak und drehte mich um.

Ripped heartWo Geschichten leben. Entdecke jetzt