4. Das Schicksal nimmt seinen Lauf

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,,Und denkt dran!", beendete Mrs. Peterson ihre Anweisung und lächelte dabei freundlich in die Runde der Schüler, die in ihren Unterlagen bereits nach den gewünschten Materialien zu suchen begannen. ,,Das muss kein Kunstwerk werden! Entfaltet einfach eure Gedanken und zeichnet mir ein Abbild von eurer größten Angst! Das kann alles mögliche sein, Hauptsache, ich erkenne hinterher, welche diese darstellen soll. Dafür habt ihr nun die gesamte Stunde Zeit!" Mit einem fröhlichen Ausdruck im Gesicht lehnte sich die junge Kunstlehrerin im Stuhl zurück, wobei ihre langen goldenen Locken wie ein welliges Meer über ihrem Stuhl hinabfielen. Zufrieden ließ sie ihre Augen über die Schüler hinweg schweifen, die nacheinander ihre Zeichenblöcke aufschlugen und mit lauter surrenden Geräuschen die Reißverschlüsse ihrer Etuis öffneten. Mona stieß derweil ein tiefes Seufzen aus, während sie lustlos den Bleistift in ihrer Hand hin und her wog. Normalerweise liebte sie das Fach Kunst über alles und war fast immer direkt Feuer und Flamme am Zeichnen, wenn ihre Lieblingslehrerin Mrs. Peterson das jeweilige Thema ankündigte. Doch heute verspürte sie aus irgendeinem Grund nicht den geringsten Funken an Motivation. Unschlüssig ließ sie die Spitze über dem leeren Blatt Papier schweben, das nur darauf wartete, mit ihrer größten Angst bemalt zu werden. Nachdenklich legte sie ihre Stirn in Falten. Ihre größte Angst... welche war diese eigentlich? Und wie kam diese Frau überhaupt auf die Idee, dass die Schüler sowas zeichnen sollten? Warum ausgerechnet dieses Thema?

Mürrisch lehnte Mona sich im Stuhl zurück, wobei sie verstohlen auf die Blätter der anderen schielte. Da sie allein in einer der beiden letzten Tischreihen saß, konnte sie unbemerkt ein paar Blicke auf die Arbeiten der anderen werfen, die unmittelbar vor ihr hockten. Einer der Jungen begann offensichtlich gerade mit der Abbildung eines riesigen Haies, während eines der Mädchen sich mit der Zeichnung eines Hochhauses abmühte. Vermutlich die Verdeutlichung von Höhenangst., vermutete Mona im Stillen, worauf ihre Augen auch schon zu Avery huschten, die hochkonzentriert das Bild einer Vogelspinne aufs Papier brachte. Die Schwarzhaarige litt also unter der typischen Furcht vor Spinnen! Ein kleines Grinsen huschte über Monas Gesicht, während sie sich schadenfroh vorstellte, wie Avery kreischend durch ihr Zimmer rannte, nur, weil sich ein kleiner Achtbeiniger unters Bett verirrt hatte. Sie selbst musste sich zwar eingestehen, dass sie sich auch ein wenig vor den Viechern fürchtete, doch deswegen rastete sie nicht direkt aus, wenn sie mal eine sah. Außerdem waren es eher die großen Spinnen, die ihr Respekt einflößten, als die kleinen Babydinger. Nein, diese Tiere waren also eindeutig nicht ihre größte Angst und somit auch nicht für ihre Zeichnung bestimmt!

Fieberhaft überlegte sie weiter, wobei sie nachdenklich auf dem Holz des Stiftes herum kaute. Wovor fürchtete sie sich denn noch? Sollte sie vielleicht
auch ein Bild malen, das ihre Höhenangst symbolisierte? Ein kleines Schmunzeln entglitt ihren Lippen, als sie sich daran erinnerte, wie sie mit dreizehn Jahren zum ersten Mal auf dem Sprungbrett des Drei-Meter-Turms im Schwimmbad gestanden und sich beim Herunterblicken so sehr gefürchtet hatte, sodass sie sich mittlerweile in keinen Kletterpark mehr wagte. Die Angst vor Höhe war tatsächlich eine berechtigte Idee, die sie aufs Papier bringen könnte, weshalb sie schließlich bloß mit den Schultern zuckte und sich einfach dafür entschied. Damit würde Mrs. Peterson sich schon zufrieden geben, immerhin war sie dies auch sonst bisher mit Monas Werken gewesen.

Sie entschloss sich dazu, ihre Furcht in Form des Sprungbrettes im Schwimmbad aufzuzeichnen, wo sie sich selbst hinterher mit einer völlig verängstigten Miene auf das Brett malen wollte, doch noch ehe sie die Spitze des Stiftes aufs Papier setzten und mit ihrer Arbeit beginnen konnte,  durchzuckte ihren Kopf auf einmal ein Geistesblitz. Die Szene vom heutigen Morgen schoss ihr durch den Sinn, in der sie zitternd vor Angst an der Hausfassade gestanden und entsetzt in die glühenden Augen des Wesens gestarrt hatte, welches scheinbar aus ihren Träumen zum Leben erwacht worden war. Von sich selbst überrascht klappte Mona die Kinnlade herunter und sie schnipste demonstrierend mit dem Finger. Das war es! Ihre Angst davor, verrückt zu sein und Wahnvorstellungen zu haben, das war es, wovor sich das Mädchen am meisten fürchtete! Nicht umsonst hatte sie sich bereits den halben Weg zur Schule den Kopf darüber zerbrochen, ob sie wohl in die Klinik musste, also war das Monster dementsprechend das perfekte Objekt, welches sie auf den Zettel malen würde!

Dream - Die Sage der TraumwandlerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt