26. Im Schlund der Trauer

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Es war, als hätte man Mona einer Spritze mit einer dermaßen wirksamen Droge ausgesetzt, durch die sie selbst den Begriff der Erschöpfung völlig vergessen würde. Wie eine aufgekratzte Gazelle jagte sie panisch über herumliegende Äste und Wurzeln hinweg, ohne auch nur eine Sekunde an den Gedanken zu verschwenden, sich eine Pause zu genehmigen. Sie wäre womöglich nicht einmal im Innbegriff dessen gewesen, dass sie gerade überstürzt um ihr Leben rannte, wären da nicht diese unkontrollierten Atemzüge gewesen, die die Brust der Claritanerin mit eisiger Luft zum schmerzhaften Zusammenziehen brachten.

All dies kümmerte die Traumwandlerin jedoch herzlich wenig. Es war ihr schlichtweg egal, dass der Adrenalinrausch nur den Eindruck vermittelte, dass sie ewig laufen könne. Es war ihr egal, dass ihre Fußknöchel unter jedem weiteren Schritt qualvoll ächzten und sich mit ziependen Empfindungen darüber beklagten, dass der Boden viel zu uneben war, um federnd darauf aufkommen zu können. Nicht einmal der wilde Herzschlag mochte sonderlich von Bedeutung sein, der ihre Brust geradezu zum Erbeben brachte. Das einzige, was wie eine schrille Alarmsirene in Monas Kopf wütete, war diese schreckliche Nahtoderfahrung, die ihr keine Gelegenheit ließ, um irgendwo eine Rast einzulegen. Die sie unerbittlich dazu aufforderte, schnellstmöglich zu fliehen.

Keuchend stieß das Mädchen einen Tannenzweig nach dem nächsten aus dem Weg, ohne Rücksicht auf ihre brennenden Hände zu nehmen, die durch die stechenden Nadeln Schürfwunden einsteckten. Sie hatte nicht die geringste Zeit, sich um die Qualen zu kümmern, die sie tapfer die Zähne zusammenbeißen ließen. Schließlich rannte sie nicht umsonst um ihr Leben und daran mochte weder das spärliche Licht, das den wie in Zeitraffer vorbeisausenden Boden unter ihr nur ansatzweise beleuchtete, noch die vielen Stämme etwas ändern können, die dicht beieinander vor ihr aufragten und die Bahn versperrten. Die Claritanerin war vielleicht nie sonderlich begabt darin gewesen, den Bällen beim Volkerballspiel im Sportunterricht rechtzeitig auszuweichen, jedoch reichte die Angst, die sie peitschenschlagend antrieb, offensichtlich völlig aus, um im Zickzack an den Giganten des Waldes vorbei zu hechten.

Seitdem Mona die Grenze des Dickichts überwunden hatte, war sie nicht ein einziges Mal stehen geblieben. Eine Tatsache, die sie insgeheim ein kleines bisschen überraschte, wo sie schließlich nie zu den berühmten Sportlerinnen der Schule gehört hatte. Sie war immer die gewesen, die nur mit Mühe und Not einen Fünfzig-Meter-Sprint absolviert hatte, nur um anschließend erschöpft hinter der Ziellinie zusammenzuklappen und mit Demut akzeptieren zu müssen, dass sie mal wieder den letzten Platz belegt hatte.

Diesmal schien jedoch eindeutig die Furcht am Zügel ihrer Gefühle sein, die sie wie ein garstiger Kutscher dazu anspornte, ja keine Acht dafür zu geben, dass sie eigentlich längst am Ende jeglicher Kräfte sein sollte. Die die Claritanerin unerbittlich daran erinnerte, wie schrecklich die Gefahr war, der sie weiterhin ausgesetzt sein würde, wenn sie nicht gefälligst die Beine in die Hand nahm. Die offensichtlich keinerlei Scham dabei verspürte, diesen fürchterlichen Knall des Schusses erneut im Kopf des Mädchens abzuspielen, als wollte sie vermeiden, dass dieses sich doch eine Pause genehmigte.

Wie eine schaurige Melodie jagte dieser ohrenbetäubende Laut durch ihre Erinnerungen und sorgte dafür, dass ihre Magengegend schlagartig zu verkrampfen begann. Sie war noch nicht dazu gekommen, den grausamen Moment zu verarbeiten, weshalb sie nun mit aller Macht innerlich darum kämpfte, diesen schnellstmöglich aus dem Gedächtnis zu verbannen. Sie wollte nicht daran denken, was geschehen war. Sie wollte unter keinen Umständen darauf hingewiesen werden, dass sie um ein Haar gestorben wäre. Hilflos bohrten sich ihre Zähne des Oberkiefers instinktiv in die untere Lippe, in der vermeintlichen Hoffnung, so jenen Gedankengang wieder zu vertreiben. Allerdings fruchtete sie damit nicht ansatzweise nach Erfolg, sondern strapazierte ihr Gehirn scheinbar so dermaßen, dass dieses scheinbar aus reinem Protest die Szene vor ihren Augen aufleben ließ, welche die Claritanerin am liebsten für immer vergessen hätte. Das Ereignis, welches Rolands leblosen Körper umfasste, für dessen Zustand sie allein zu verantworten hatte.

Dream - Die Sage der TraumwandlerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt