55) In Trance

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A M E L I E

„Mensch Paula wann kommt er denn endlich" stöhne ich und veratme eine Wehe. „In etwa einer halben Stunde, hat er gemeint" Sie kommt wieder auf mich zu und streicht mir beruhigend über den Rücken. Ohne sie wäre ich in dieser Situation wahrscheinlich schon längst Amok gelaufen. Diese bescheuerten Wehen werden von Mal zu Mal schlimmer  und die Wehenpausen immer kleiner, was so viel bedeutet, wie durchgehende Schmerzen.

„Frau Tuber das sieht alles sehr gut aus! Wir können nun die Geburt einleiten" meint meine Hebamme nach einem kurzen Kontrollblick. „Das geht nicht, noch nicht" rufe ich alarmiert. „Bei allem Verständnis, aber wir können nicht mehr länger warten" erklärt sie sanft und ruft eine Ärztin herbei. „Man, er hat es sich doch so gewünscht" sage ich mit Tränen in den Augen. „Wir schaffen das jetzt zu zweit, Amelie!" sagt Paula aufmunternd und greift meine Hand. „Ich bin da für dich!" - „Eigentlich sollte Andi jetzt hier sein" sage ich unter Tränen.

„Okay, bereit?" sagt die Ärztin. Ich schüttle den Kopf. „Sie haben Recht, man kann dafür nicht bereit sein, aber bei der nächsten Wehe müssen sie ganz fest pressen, verstanden?" meint sie auf eine freundlich und einfühlsame Art. Wieso kann der kleine sich nicht noch ein paar Minuten Zeit lassen. Ich stöhne genervt auf und drücke Paulas Hand, da die Schmerzen wieder stärker werden. Wie gerne hätte ich ihn jetzt bei mir! Einfach nur um zu wissen, dass jemand da ist. Und ich habe auch noch gesagt, dass es gar nicht sein kann, dass der kleine in denn nächsten Tagen kommt. Immer wieder hat er gesagt, dass es für ihn kaum schlimmeres gäbe, als bei der Geburt nicht dabei zu sein.

„Lassen Sie mich sofort zu ihr" höre ich plötzlich eine aufgebrachte dumpfe Stimme von draußen. „Ist das Andi?" frage ich wimmernd. „Ich gehe kurz gucken" Paula lässt meine Hand los und geht zur Tür, durch die genau in diesem Moment Andi gestürmt kommt. „Gott sei dank, ich bin noch nicht zu spät" sagt er außer Atem.
„Schön, dass du es noch geschafft hast" sage ich mit kratziger Stimme, da diese vom vielen Schreien ganz rau geworden ist. „Ich habe dir versprochen, dass ich da sein werde!" sagt er und gibt mir einen Kuss. „Sie können Ihre Freundin unterstützen, indem sie ihr jeden Wunsch von den Augen ablesen und nachher nicht nachtragend sind, verstanden?" die Ärztin schaut ihn eindringlich an und er nickt brav, was bleibt ihm auch anders über? „Ich bin jetzt da, ganz ruhig. Einfach so atmen, wie du's gelernt hast" meint er sanft und streicht über meinen Kopf.

„Fuck" rufe ich und versuche Druck nach unten hin auszuüben. Währenddessen drücke ich Andis Hand so fest ich kann. „Du machst das super, Amelie" meint er zu mir. „Halt bitte einfach deinen Mund! Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sich das gerade anfühlt" schreie ich. In diesem Moment ist mir alles egal, ich möchte nur endlich meinen kleinen Sohn in den Armen halten. Durch die Schmerzen nehme ich mittlerweile alles nur noch wie durch Watte wahr, da das Stechen und Pochen meine ganzen Wahrnehmungen überlagert und im Vordergrund steht. Ich versuche, so doll es geht, zu pressen, um diesen verdammten Schmerzen endlich ein Ende zu bereiten. Ich spüre, wie Andi sanft einzelne Haarsträhnen aus meiner Stirn streicht und mir immer wieder aufmunternde Worte ins Ohr flüstert. „Weiter Schatz, gleich hast du es geschafft"

Erst durch Babygeschrei erwache ich wieder aus meiner Trance. „Du hast es geschafft" sagt Andi mit Tränen in den Augen. „Ich bin so stolz auf dich! Du warst so tapfer, Amelie" er lächelt küsst mich zärtlich. „Möchten Sie die Nabelschnur durchtrennen?" wird Andi gefragt und er nickt. Mit zitternden Händen greift er nach der Schere und durchtrennt langsam und behutsam die Nabelschnur. Nach dem dies geschehen war, nimmt eine Kinderärztin den kleinen mit, um ihn zu untersuchen. Wenig später wird er wieder von einer Krankenschwester in den Kreißsaal gebracht.

„Herzlichen Glückwunsch, darf ich Ihnen Ihren Sohn vorstellen? Er wurde am 30. Oktober 2018 um 14:27 geboren und wiegt 3960 Gramm. Der kleine ist rundum gesund und hat die Geburt einwandfrei überstanden" meint sie mit einem Lächeln auf den Lippen. Andi und ich atmen erleichtert auf. Sie reicht mir unseren Sohn, der in eine dicke Decke eingewickelt ist, und ich lege ihn auf meine Brust. „Wow, er ist so wunderschön" sage ich gerührt und streiche meinem Sohn über die Wange. „Das ist er" Andi legt seinen linken Arm um mich und streicht mit dem anderen über den Kopf unseres Prinzen. Ich kann meinen Blick gar nicht von ihm lösen und bin total fasziniert von jeder noch so kleinen Reaktion oder Bewegung. Müde streckt er seine Hände in die Luft und versucht vergeblich nach irgendetwas zu greifen. Ich hebe ihn vorsichtig hoch und gebe ihm einen Kuss auf die Stirn. Er quietscht freudig und öffnet zum ersten Mal seine Augen. „Haben wir gut hinbekommen" meint Andi stolz und grinst. „Oh ja das haben wir"

„Ich will Sie nicht stören, aber ich brauche noch den Namen für die Geburtsurkunde" sagt eine Ärztin. „Der kleine heißt Linus, Linus Wellinger" verkünde ich und würde dabei am liebsten vor Stolz platzten. Sie nickt und verschwindet wieder. „Hallo Linus, mein kleiner" Andi grinst und nimmt ihn in seine Arme. Ganz vorsichtig hält er ihn und knuddelt ihn. Er geht so liebevoll und zärtlich mit ihm um, dass ich ihm am liebsten die ganze Zeit dabei zusehen würde. Wenn Männer gut mit Kindern oder Tieren umgehen können, dann schmilzt doch das Herz einer jeden Frau.

Anders als du denkst (Wellinger/ Kraft +  Team) Skispringen Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt