3.2/LUCAS

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3.2

Er hätte es wissen müssen. Lucas hätte es wissen müssen.

Er hätte wissen müssen, dass sie früher oder später kommen würden, um alles und jeden zu zerstören, der ihnen im Weg steht. Wobei – ein Teil von ihm hat es wahrscheinlich schon von Anfang an gewusst, seit er dieses kleine Dorf zum ersten Mal betreten hat, nur hat er diesem Teil schlicht und einfach nicht zugehört.

Lucas wagt es nicht, sich noch einmal nach dem kleinen Flecken Land umzudrehen, der für ein Jahr seine Zuflucht war, vielleicht sogar so etwas wie sein Zuhause. Jetzt ist nichts mehr davon übrig außer Leichen und Feuer und Blut, das hat er mit eigenen Augen sehen müssen. Die Soldaten haben den Kern des Gypsydorfs bis auf die Grundfesten niedergebrannt, alles Wertvolle geraubt, alles Leben ausgelöscht. Nur ein paar vereinzelte Hütten sind dem Feuer entgangen, aber auch sie werden bald von der Natur zurückerobert werden. Hinter Lucas liegt ein Berg voller Leichen mit Männern, Frauen, Kindern und Babys, weil er sie nicht beschützen konnte. Weil er sich nicht dazu überwinden konnte, sich diesen Soldaten, zu denen er selbst einmal gehört hat, entgegenzustellen. Stattdessen hat er sie belauscht und ist geflohen, obwohl der Klan seine Hilfe gebraucht hätte.

Aber so sehr Lucas diese Menschen auch mochte, er konnte nicht riskieren, jemals von diesen Soldaten erkannt zu werden. Dann wüssten sie, dass er vor fünf Jahren versagt hat. Dass er willentlich versagt hat.

Und dann würden sie ihn töten.

Aber die Schreie der Gypsys klingen noch immer in seiner Erinnerung nach, das Blut auf dem Boden, als er sich Stunden nach dem Ende des Massakers – und nachdem er Anica sterben sah – in die Mitte des Dorfes zurückgewagt hat, glitzert vor seinem geistigen Auge noch immer wie ein See aus Rubin unter ihm.

Lucas war früher ein Versager und er ist es noch immer. Wird es immer bleiben.

Er stolpert über das am Boden liegende Geröll und fängt sich erst in letzter Sekunde, der Leinensack rutscht von seinen Schultern und fällt in den Staub. Mit von den Rauchsäulen abgewandtem Gesicht setzt Lucas sich und durchsucht sein Proviant. Die Sachen hat er aus den halb abgebrannten Häusern der Leute gestohlen, die ihn ein Jahr lang durchgefüttert haben und jetzt tot in der Asche ihres Lebens liegen.

Er hätte ja die Götter um Hilfe gebeten, doch er glaubt nicht mehr an eine solch übergeordnete, machtvolle, gute Instanz. Die Gypsys glauben an die Sonnengötter, die der aufsteigenden Dunkelheit Einhalt gebieten – auch dieses Dorf hat daran geglaubt, und man sieht ja, was es ihnen gebracht hat. Die Torza-Kolonie glaubt an nur eine einzige Göttin, die sich Lurana nennt und Feuer speien kann. Die Merita-Kolonie huldigt den Ernte-Göttern und die Fuller bieten ihren Opfergöttern Flammenopfer dar. Elayra glaubt an gar keine Götter.

Lucas kann auch nicht mehr an Götter glauben, nicht nach dem, was er gerade mit eigenen Augen zu sehen bekommen hat. Warum hätte ein Gott, der die Macht hat, dies aufzuhalten, ein solches Unrecht geschehen lassen? Nein, das Volk von Élara lebt in einer gottlosen Welt, dessen ist er sich absolut sicher.

Lethargisch nimmt er den Wasserbeutel und versucht zu verdrängen, dass dieser aus einem Dorf von Toten stammt. Das Wasser ist zu warm, um erfrischend zu sein, aber zumindest befeuchtet es Lucas' ausgetrocknete Kehle.

Sein eigentlich braunes Haar sieht nun dank der Asche und dem Dreck eher gefleckt schwarz-grau aus, und kurz überlegt er, sein Wasser zu nutzen, um sich von seinem eigenen Vergehen reinzuwaschen und den Geruch des Todes auf seiner Haut zu eliminieren. Doch dann blickt er in die Ferne und sieht, soweit das Auge reicht, nichts als Brachland und zerstörte Weideflächen. Wenn er das Wasser jetzt nicht gut einteilt, wird er innerhalb weniger Tage verdursten, und so einfach kann er es Elayra nicht machen. Vor allem, da er noch eine Aufgabe hat.

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