10.2/PRIMA

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10.2

Sie erwacht, umgeben vom penetranten Geruch süßen Flieders, der trotz seiner Intensität keineswegs unangenehm auf Prima wirkt, sondern vielmehr beruhigend.

Für einen Moment vergisst sie alles, was in den letzten Tagen und Jahren geschehen ist, gibt sich stattdessen diesem lang vermissten Gefühl von Heimat hin. Als sie schließlich jedoch die Augen aufschlägt, ergreift dumpfe Panik Besitz von ihr. Sie will sich aufsetzen, doch ihr Körper scheint ihr nicht gehorchen zu wollen.

Plötzlich legt sich eine kleine, filigrane, aber runzelige Hand auf ihre Schulter und dirigiert Prima mit Nachdruck zurück in ein weiches Federkissen. »Austin«, murmelt die alte Dame sanft. Einen Augenblick später steht der Junge auch schon an ihrer Seite, als hätte er sich aus dem Nichts materialisiert.

Ein besorgter Ausdruck huscht über sein Gesicht, als sein stechender Blick Primas begegnet. Eine Sekunde später starrt Prima schon wieder in eine völlig ausdruckslose Miene.

»Wie geht es ihr?«, fragt ihr Gegenüber mit den auffallend rötlich-blonden Haaren mit einem gewissen Unterton des Desinteresses, als wäre er gegen seinen Willen hier und könnte seinen Unmut darüber nicht so wirklich verstecken.

Die alte Frau sieht den Jungen neben sich finster und tadelnd an. »Setz dich und frag sie das selbst. Die Schmerzmittel benebeln ihren Verstand noch ein wenig, aber das sollte sich bald legen.«

Noch immer steht Austin unentschlossen da und scheint die Möglichkeit abzuwägen, zu bleiben oder die Flucht zu ergreifen.

»Setz dich!« Die Stimme der Frau hat an Schärfe gewonnen, und nur einen Augenblick später leistet Austin der Aufforderung schließlich Folge. Während die Alte mit einem letzten warnenden Blick in seine Richtung aus dem Raum verschwindet, lehnt Austin sich mit einem entnervten Seufzer im Stuhl zurück und mustert Prima von oben bis unten.

»Da hat es dich aber ganz schön erwischt«, kommentiert er und zieht eine Augenbraue in die Höhe, was sein kantiges Gesicht und dem eiskalten Blau seiner Augen etwas an Schärfe nimmt.

Prima brummt, ihr Hals schmerzt. Einen Augenblick später hält Austin ihr ein Glas Wasser unter die Nase, weshalb sie sich vorsichtig aufsetzt und den Becher entgegennimmt, um nach und nach immer wieder einen Schluck zu trinken.

»Danke«, wispert sie dann und lehnt sich an die Wand, um den Jungen besser im Blick zu haben. »Wo hast du mich hingebracht?«

Stoische Ruhe schlägt Prima entgegen und ein kalter Schauer jagt über ihren Rücken. Dann schüttelt er den Kopf und fragt: »Was ist passiert?«

»Was?« Verwirrt starrt sie ihn an.

»Die Verletzungen sind ziemlich krass. Was ist geschehen?«

Prima versucht, ihren Gesichtsausdruck unter Kontrolle zu bringen. »Ich bin die Treppe hinuntergestürzt.«

»Klar, und Simon war die Treppe, oder wie?« Austin stößt ein freudloses Lachen aus.

»Simon hat damit nichts zu tun«, erwidert Prima wahrheitsgemäß.

Austin verschränkt die Arme in einer abwehrenden Geste. »Das sah aber vorhin im Flur, in den ihr beide klammheimlich verschwunden seid, ganz anders aus. Oder generell die gesamten Jahre, die du auf dieser Schule schon verbracht hast. Denkst du wirklich, die Leute wissen nicht, was in diesen vier Wänden vor sich geht? Glaub mir, jeder weiß es.«

»Es interessiert bloß keinen«, fügt sie säuerlich hinzu. »Das ändert nichts an der Tatsache, dass Simon nichts mit meinem jetzigen Zustand zu tun hat. Das im Flur war nur eine kleine Meinungsverschiedenheit.« Sie hält inne. »Woher weißt du eigentlich davon?«

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