RETTUNGEin leises Schluchzen und Wimmern war im ansonsten ruhigen Haus im Ligusterweg 4 zu hören. Plötzlich durchriss eine laute, wütende Stimme die Ruhe. „HALT ENDLICH DIE SCHNAUZE, DU ELENDER FREAK. ICH WILL SCHLAFEN!!“ schrie Vernon Dursley, während er die Tür zum Schrank unter der Treppe aufriss.
In dem Schrank saß ein völlig verängstigter 11-jähriger Junge. Mit rotverweinten Augen sah er auf die walrossartige Gestalt seines Onkels. „LOS AUFSTEHEN!“ Langsam und zitternd stand der Junge auf. Er unterdrückte einen Schmerzensschrei, denn die Wunden, die auf seinem Rücken waren, schmerzten ihn sehr. Dursley riss und zog den Jungen am Arm zur Hintertür. „Los, raus hier und wag ja nicht vor sechs Uhr wieder in zu kommen. Und denk daran, ich will um sieben Uhr mein Frühstück haben.“ Mit diesen Worten stieß Vernon Dursley seinen Neffen Harry grob in den Garten, schlug die Tür zu und schloss ab.
Am ganzen Körper zitternd stand Harry da und sah auf die verschlossene Tür. Er wusste, dass es am nächsten Morgen wieder Schläge geben würde, wie jeden Tag seit fast einer Woche, denn er konnte unmöglich Frühstück machen, da er nicht ins Haus kam. Immer noch schluchzend setzte Harry sich in eine Ecke, zog die Knie an und schlang die Arme darum. Dort saß er nun. Ein schmächtiger, viel zu kleiner Junge, mit schwarzen Haaren, die nicht zu bändigen waren, und glanzlosen, grünen Augen. Er war schon immer bei den Dursleys gewesen, weil seine Eltern durch seine Schuld gestorben waren. Er konnte sich nicht daran erinnern, doch er bekam es täglich zu hören. Irgendwann schlief Harry erschöpft ein.
Der Morgen graute schon. „Was fällt dir eigentlich ein zu schlafen? Es gibt genug Arbeit für dich.“ keifte Harrys Tante Petunia. Harry öffnete die Augen und sah in das wutverzerrte Gesicht seiner Tante. Schon im nächsten Augenblick spürte Harry ein halbes Dutzend Ohrfeigen. „Marsch ins Haus. Es wird mal wieder Zeit die Fenster zu putzen und die Teppiche auszuschlagen.“ Langsam, da er durch das ständige Schubsen seiner Tante stolperte, ging er ins Haus. „Geh zu deinem Onkel. Er will mit dir reden.“ befahl Petunia mit einem hämischen Grinsen. Harry wusste, was das bedeutete. Zitternd ging der Junge die Kellertreppe runter. Vernon hatte viel Geld dafür ausgegeben den Keller schalldicht zu machen. So konnte er seine Bestrafungen durchführen, ohne dass es die Nachbarn mitbekamen.
„Komm her, Freak.“ knurrte Vernon. Harry ging langsam, aber ohne stocken, auf seinen Onkel zu. Er wusste, wenn er zögerte würde alles nur schlimmer werden. Kaum war Harry in Vernons Reichweite, packte dieser den Jungen brutal am Arm und riss ihn zu sich. „Ich habe dir doch gesagt, ich will um sieben Uhr Frühstück haben. Glaubst wohl, du hättest es nicht mehr nötig, deine Schulden abzubezahlen. Glaubst wohl, weil du nun in diese Beklopptenschule gehst, brauchst du mir keinen Respekt mehr erweisen. Ich werde dir schon zeigen wo dein Platz ist.“ zischte er gefährlich leise. Mit einem irren Glitzern in den Augen stieß Vernon den verängstigten Jungen in eine Kellerecke. „Du elende Missgeburt. Du wirst sehen, keiner der so verkommen ist wie du wird jemals glücklich. Du wirst genauso elendig zu Grunde gehen wie deine verfluchten Eltern. Die hast du ja auch schon auf dem Gewissen. Und jetzt steh auf.“ blaffte Dursley.
Zitternd stand Harry auf. Er wollte keine Angst zeigen, aber vor dem was jetzt kam graute ihm. Die Schläge von gestern spürte Harry immer noch genau. Gott sei Dank hatte Vernon nur seinen Gürtel benutzt. Dadurch waren zwar einige seiner Wunden aufgeplatzt, aber daran war der Junge schon gewöhnt. Heute jedoch wollte Vernon ein Exempel statuieren. Zuerst holte er seinen Gürtel hervor.
„Dreh dich um.“ zischte er kalt. Harry tat wie ihm geheißen und kaum hatte er seinem Onkel den Rücken zugedreht, spürte Harry schon den ersten Schlag. Sofort platzte sein Rücken auf. Auch einige seiner alten Verletzungen brachen auf und Blut und Eiter liefen ihm den Rücken runter. Dursley schlug immer wieder zu. Harrys T-Shirt, das ihm viel zu groß war, hing schon lange in Fetzen. Seit Beginn der Ferien durfte Harry kein anderes Shirt mehr anziehen. Nach mehr als einer Stunde hörte Dursley auf. Harry lag inzwischen auf dem Boden. Er war blutüberströmt und es gab so gut wie keinen Flecken seines Körpers, der nicht mit blutigen Striemen oder blauen Flecken übersäht war. Doch Dursley war noch nicht mit Harry fertig. Heute wollte er den Bastard endgültig fertig machen. Er ging zu einem Ofen in der Ecke des Kellers. Er lief schon und in der Glut lagen mehrere Eisenstangen. Harry lag, mit stummen Tränen in den Augen, in seiner Ecke und hoffte bald das Bewusstsein zu verlieren, so wie auch schon in den letzten vier Tagen.
Harry hatte schon immer Schläge bekommen. Wieso auch nicht? Er war ja schließlich nur ein Freak und als Freak hat er keine Rechte. Doch seitdem er vor fünf Tagen elf Jahre wurde, wurde alles viel schlimmer. Harry hatte an diesem Tag den Beweis bekommen, dass sein Onkel immer recht gehabt hatte. Nur Freaks waren so unnormal. Und er, Harry, war unnormal. Er war ein Zauberer. Das konnte er immer noch nicht glauben.
