Kapitel 1

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Ich verließ das Backsteingebäude und trat in den strömenden Regen hinaus. Der Regen hatte mich bereits komplett durchnässt, noch bevor ich die Bushaltestelle erreichte. Jeder Schritt auf dem gepflasterten Gehweg ließ das Gummimaterial meiner Stiefel quietschen.

Es dauerte nicht lange, bis der Bus kam. Als ich auf dem Sitzplatz am Fenster Platz nahm, atmete ich kurz durch.

Es war, als hätte der Alltag für einen winzigen Moment seine eiserne Faust um mich gelockert, und ich konnte kurz durchatmen.

Doch die Ruhe war von kurzer Dauer. Kaum hatte ich mich entspannt, erklang bereits die monoton klingende Stimme der Durchsage, die meine Haltestelle ankündigte. Ich fühlte mich wie ein Packesel, als ich den Beutel mit meinen Schulbüchern schulterte und mich immer noch im strömenden Regen zum Haus meiner Mutter schleppte.

Als ich endlich das Haus erreichte, fiel mein Blick auf die tristen, grauen Wände und das regennasse Dach. Es schien, als spiegelte das Wetter meine eigenen Gedanken wider. Gegen halb fünf trat ich durch die Haustür und ließ mit einem erleichterten Seufzen den Beutel fallen. Meine Mutter kam in den Flur und warf einen abschätzigen Blick auf meine Schuhe.

„Bitte sag mir nicht, dass du die hässlichen Dinger wieder anhattest." Sie fuhr sich mit einem Stöhnen durch die Haare. Ihre Worte trafen mich hart, und ich konnte die mühsame Fassade der Gleichgültigkeit kaum aufrechterhalten. Ich zuckte mit den Schultern, unfähig, ihr zu erklären, warum gerade diese alten Stiefel mir so viel bedeuteten.

„Du weißt doch, wie uns das dastehen lässt. Als könnten wir uns keine vernünftigen Klamotten leisten."

Ich zuckte mit den Schultern. Um ehrlich zu sein hatte ich gerade nicht wirklich Lust, mir eine Standpauke von meiner Mutter anzuhören. „Ich verstehe ja, dass dein Vater sie dir geschenkt hat, aber diese Schuhe haben ihre besten Zeiten schon erlebt!" Ihr entfuhr ein Schnaufen und ich starrte unbeholfen auf meine weinroten Docs, die mittlerweile tatsächlich alles andere als neu waren. Auf der Stelle fiel mir so Vieles ein, so viele Worte, die ich gerne loswerden wollte. Stattdessen zuckte ich nur erneut mit den Schultern.

„Erzähl doch mal, wie war die Schule heute?"-„Ganz okay, schätze ich."

„Hast du irgendwelche Zensuren bekommen?", fragte meine Mutter und ich schüttelte eilig den Kopf, denn ich wollte ihr nicht davon erzählen, dass ich heute schon wieder eine 4- in Mathematik bekommen hatte. Ich wollte sie nicht noch mehr enttäuschen. Wider meiner Erwartungen nickte sie nur und setzte schließlich ein Lächeln auf.

„Ich bin froh, dass dir Schule so leicht fällt. Dein Vater hatte damals Probleme in Mathematik, er wäre stolz, zu sehen, dass das bei dir nicht der Fall ist."

Ich schluckte und meinte, für einen Augenblick einen Anflug von Trauer in den Augen meiner Mutter zu sehen, jedoch schon ich diesen absurden Gedanken sofort wieder zur Seite, als sie ihr typisches Millionen-Dollar Lächeln aufsetzte. „Was möchtest du heute essen? Auguste hat noch nicht gekocht, weil du noch nicht da warst."

„Ich habe nicht wirklich Hunger. Ich will eigentlich nur noch in mein Zimmer, heute war ein anstrengender Tag", teilte ich meiner Mutter mit. Und das war nicht einmal gelogen.

„Bist du dir sicher? Gerade dann musst du doch was essen", forschte sie nach. „Ja. Und ich muss sowieso noch für einen Test lernen", log ich. „Achso, natürlich. Geh ruhig hoch, das ist wichtig." Ich nickte und ging rasch die Treppen hoch, darauf bedacht, weiteren Fragen meiner Mutter auszuweichen.

Das helle Zimmer, welches ich betrat, fühlte sich nicht wirklich wie meins an, was doch wirklich verwunderlich war, wenn man bedachte, dass meine Mutter sich so viel Mühe gegeben hatte, die beste Innenarchitektin im Land einzusetzen. Ich ließ meinen Blick durch den großen Raum schweifen und brummte.

DEAR JONATHANWo Geschichten leben. Entdecke jetzt