Kapitel 9

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Mittlerweile war einige Zeit verstrichen und ich erwischte mich dabei, wie ich immer wieder einen verstohlenen Blick auf die Uhr zu erhaschen versuchte. 20:55 Uhr zeigte sie und ich legte mir in meinem Kopf bereits Ausreden zurecht, um mein plötzliches Verschwinden zu erklären. „Ich meine, sicher, London ist ein paar Stunden Flug entfernt und wir werden sicherlich die eine oder andere Woche dort verbringen müssen. Aber dieser Job ist eine großartige Gelegenheit, um die Firma auch international zu repräsentieren. Außerdem könnt ihr uns selbstverständlich jederzeit besuchen. Vorausgesetzt, es läuft alles in der Schule." Richard zwinkerte bei diesen Worten in Elis und meine Richtung. Ich entgegnete ein Lächeln und nahm ein Schluck von meinem Glas.

„Apropos Schule", schaltete Eli sich ein, „ich dachte, ich könnte Camila vielleicht Nachhilfe geben. Was hältst du davon Eleanor?", fragte er, an meine Mutter gerichtet. Ich verschluckte mich an meinem Getränk und murmelte eine leise Entschuldigung. Schließlich richtete ich einen ungläubigen Blick an Eli. Ich konnte nicht glauben, dass er es meiner Mutter einfach so erzählte. Diese hingegen, sichtbar schockiert von Elis Vorschlag, warf mir einen kurzen Blick zu, welcher nichts gutes zu verheißen hatte, zu und überspielte die Überraschung, indem sie sofort wieder ihr typisches Lächeln aufsetzte.

„Das ist aber wirklich ein nettes Angebot von dir, Eli. Ich werde eventuell darauf zurückkommen."

Eli nickte knapp und schaute in meine Richtung als erwartete er eine Reaktion von mir.

„Wenn ihr mich entschuldigen würdet. Wo wir gerade beim Thema Schule sind, ich habe da dieses eine Schulprojekt, was ich dringend noch fertigstellen muss." Mit diesen Worten erhob ich mich und gab mir größte Mühe, den Raum schnellstmöglich zu verlassen. Im Flur streifte ich mir eine Jacke über und warf noch kurz einen prüfenden Blick in den Spiegel.

Bevor ich jedoch die Tür öffnen wollte, betrat eine weitere Person den Flur. Ich drehte mich um.

Es war niemand Geringeres als Eli.
„Was. zur. Hölle. sollte. das. gerade?", zischte ich und tippte bei jedem der einzelnen Worte mit meinem Finger auf seine Brust. „Ich wusste nicht, dass sie es noch nicht weiß", rechtfertigte er sich und hob abwehrend die Hände.

„Bullshit. Du wusstest genau, dass ich es ihr noch nicht erzählt habe. Was stimmt denn nicht mit dir?", fragte ich rhetorisch und war etwas überrascht von meiner ungewohnt harschen Wortwahl. „Was nicht mit mir stimmt? Was zur Hölle stimmt nicht mit dir? Du bist nicht du selbst. Es ist, als würde jemand anderes vor mir stehen. Irgendjemand, aber definitiv nicht du, Camila", stellte er fest, als würde er definieren, was meinen Charakter ausmachte.

„Wie auch immer. Ich gehe jetzt", entgegnete ich in bestimmtem Ton und als wollte ich meine Entschlossenheit unterstreichen, glättete ich demonstrativ die imaginären Falten meiner Jacke.
„Wohin? Etwa zu diesem Bates? Ich denke nicht, dass deine Mutter das gutheißen würde." Ich schnaufte verächtlich. „Dann los. Nur zu. Erzähl es ihr. Das kannst du doch so gut." Mit diesen Worten öffnete ich die Tür und ließ sie hinter mir ins Schloss fallen. Als ich den Weg zur Straße hinunter ging, wurde meine vorherige Entschlossenheit durch Schwere ersetzt.

Ich fühlte mich, als würde auf meinen Schultern das Gewicht mehrerer Tonnen lasten. Betrug. Ich fühlte mich betrogen. Allein gelassen von dem einzigen Menschen, bei dem ich das Gefühl hatte, dass er ein bisschen menschlicher als jeder andere in dieser Stadt war. Mein einziger Freund. Ich hatte das Gefühl, dass sich, während ich einen Fuß vor den anderen setzte, eine Art Schalter umgelegt hatte. Als wäre, das, was meinen Körper bewegt, ihn kontrolliert, nicht ich selbst wäre. Ich schüttelte diesen Gedanken ab und richtete meinen Blick auf. Es genügte immerhin, dass ich heute bereits in eine Person gerannt war.

Dort stand er. Der alte Mustang. Aus dem Fenster kam der Rauch einer Zigarette und als ich ihm näher kam, Jonathan näher kam, da hatte ich das Gefühl, als bohrten sich seine jadegrünen Augen in die meinen. „Amanda. Ich dachte schon, du kommst nicht mehr", entgegnete er mit einem Blick auf seine Armbanduhr. Dankend stieg ich durch die Autotür ein, welche er mir offen hielt. „Ich hab schon überlegt, was ich deiner Mutter sage, wenn ich an ihrer Haustür klingel'. Aber ich muss gestehen, ich bin froh, dass ich es nicht tun musste."

DEAR JONATHANWo Geschichten leben. Entdecke jetzt