Kapitel 2

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Als ich endlich zu Hause ankam, konnte ich nicht anders, als an den Brief meines Vaters zu denken. Meine Freude darüber, dass Herr Teller mich für den Wettbewerb angemeldet hatte, war riesig und es war auch nicht sein erster Versuch gewesen, jedoch hatte meine Mutter es bisher nie erlaubt, denn laut ihr war das nichts Richtiges. Nichts, was eine Zukunft hätte. Umso besser wusste ich jetzt, dass sie auf keinen Fall davon Wind bekommen dürfte, denn wenn sie das täte, so würde sie vermutlich sofort dafür sorgen, dass Herr Teller den Job verliert und würde mich gleich darauf enterben. Ich entschloss mich dazu, mir das Schreiben des Wettbewerbs, das mein Lehrer mir in die Hand gedrückt hatte, einmal genauer anzusehen.

Sehr geehrte Frau Flores,
Wir freuen uns sehr, Sie in unserem Wettbewerb begrüßen zu dürfen. Anbei die Regeln und Hinweise für Ihre Teilnahme.

1. Jede*r Teilnehmer*in hat ein Foto seiner Wahl einzureichen.

2. Das Thema des Wettbewerbs ist „Reise". Den Teilnehmer*innen steht die Interpretation dieses Begriffes frei.

3. Das Foto muss bis spätestens 31.12. diesen Jahres eingereicht worden sein. Einsendungen außerhalb dieses zeitlichen Rahmens werden nicht mehr berücksichtigt.

4. Es gibt drei Wettkampfsklassen, wobei Sie in die WK 3 eingeordnet wurden.

5. Die Fotos werden anonym von einer Jury bewertet.

6. Die Hauptpreise sind unter anderem ein Praktikum bei Andreas Gursky, eine 4-tägige Reise nach Paris inkl. Besuch mehrerer Fotografieausstellungen, eine volle Fotografieausrüstung gestellt von Canon im Wert von 1600,- etc.

Das Geräusch einer sich öffnenden Tür ließ mich aufschrecken. Als ich meine Mutter im Türrahmen erblickte, ließ ich den Brief schnell hinter meinem Rücken verschwinden. „Hey", sagte sie mit einem müden Lächeln, welches ihre grünen Augen jedoch nie erreichte. „Ilja ist bald da. Bitte tu mir einen Gefallen und zieh dir noch was Schickes an, ja? Er führt uns zur Feier des Tages aus." Zur Feier des Tages? Wenn meine Mutter meinen verwirrten Blick gesehen hatte, musste sie verdammt gut darin sein, dies zu verstecken. Für einen Moment sah sie so aus, als wollte sie noch etwas sagen, drehte sich dann jedoch wortlos um und verließ mein Zimmer. Mit einem leichten Seufzen legte ich den Brief in die Schublade meines Nachtschränkchens und stand auf um nach etwas Passendem zu schauen. So wie ich Ilja kannte, war dieses Restaurant vermutlich wieder super schick, weshalb ich vermutlich etwas tiefer in den Kleiderschrank greifen musste. Letztendlich entschied ich mich für ein smaragdgrünes Kleid, welches mein Vater mir einmal zukommen lassen hatte, da er der Meinung war, dass es perfekt zu meinen grünen Augen passte.

Für ein paar Sekunden dachte ich an diesen Tag zurück, bevor ich aus meinem Tagtraum gerissen wurde, als ich ein Klopfen wahrnahm. Es musste Auguste sein, denn meine Mutter wäre einfach reingeplatzt. „Ja, ich bin schon fertig!", rief ich, während ich im Gehen in den zweiten der unbequemen Schuhe schlüpfte. Ich öffnete die Tür. „Dein Vater ist da!", sagte Auguste und ich blieb wie eingefroren stehen.

Er ist nicht mein Vater", zischte ich.

„T-tut mir leid, ich wusste nicht-", begann Auguste zu stottern, doch ich drehte mich bereits von ihr weg. Fast tat es mir etwas leid, sie so angefahren zu haben. Immerhin war sie die Person, die am wenigsten dafür konnte. Nachdem ich es auch endlich geschafft hatte, die Schnalle des Schuhs zuzumachen, schaute ich auf, nur um von einem strafenden Blick seitens meiner Mutter und den stechend kalten Augen von Ilja empfangen zu werden. „Hallo Camila." Ich nickte Ilja zu und beschloss schließlich, auf dem Weg in die Garage meine Augen auf dem Boden zu lassen.

Ich lag selbstverständlich nicht falsch- das Restaurant war mehr als super schick und es war voll von Leuten wie meiner Mutter und Ilja. Der Ort strahlte eine Aura von Wohlstand und Eleganz aus, die die beiden zweifellos ansprach. Als der Kellner uns zu unserem Tisch führte, konnte ich nicht anders, als zu bemerken, wie er ein Lächeln aufsetzte, das scheinbar perfekter war als das meiner Mutter. Es war eine Fassade aus Höflichkeit. Während meine Mutter und Ilja angeregt miteinander sprachen, versuchte ich mich auf mein eigenes Inneres zu konzentrieren und vermied es, in die Gespräche um mich herum einzutauchen. Wenn ich sprach, waren meine Worte knapp und zurückhaltend, ein Reflex, der mich vor weiteren Fragen bewahrte, die ich nicht beantworten wollte. Doch trotz meiner Stille schienen meine Begleiter keinen Verdacht zu schöpfen, denn sie kannten mich genau so, wie sie es von mir gewohnt waren - jemand, der sich oft im Schweigen versteckte, auch wenn er so viel mehr zu sagen hätte. Als der Kellner kam um unsere Bestellung aufzunehmen, fiel mir auf, dass ich noch nicht ein einziges Mal in die Karte geschaut hatte. Ich schlug schnell die Karte auf, doch der erwartungsvolle Blick des Kellners setzte mich so unter Druck, dass ich einfach losplapperte.

„Einmal Nudeln mit Tomatensoße", murmelte ich, und als ich einen flüchtigen Blick in die Speisekarte warf, wurde mir klar, warum der Kellner so verwirrt aussah. Wir befanden uns schließlich in einem französischen Restaurant. Der Blick meiner Mutter wechselte von überrascht zu empört und schließlich lachte sie. „Entschuldigen Sie meine Tochter, den Humor hat sie von ihrem Vater." Mein Blut begann zu kochen, als ich hörte, wie sie meinen Vater vor fremden Leuten schlechtmachte, doch ich hielt die Worte zurück, die ich zu gerne losgeworden wäre.

„Sie nimmt bitte einmal die Nummer 71. Und drei Gläser Champagner s'il vous plait." Schnell schlug ich die Karte auf. Nummer 71. Bouillabaisse. Ich sah auf und schaute meiner Mutter für ein paar Sekunden in ihre starren Augen, bevor ich den Blickkontakt abbrach. Bouillabaisse war eine Fischsuppe. Ich versuchte meine Abneigung gegenüber dem Gericht zu verbergen, wissend, dass meine Mutter mich mit der Bestellung dieses Gerichtes unauffällig in meine Schranken weisen wollte. Ich blickte mich im Restaurant um, bis mein Blick an etwas hängen blieb. Ein paar Tische weiter saß ein attraktiver junger Mann, seinen Kopf auf dem Ellenbogen aufgestützt. Seine braunen Haare waren etwas länger und wenn mich nicht alles täuschte, starrte er mir genau in die Augen. Ich sah mich verunsichert um, konnte jedoch auch hinter und neben mir nichts entdecken, was seinen Blick auf sich gezogen haben könnte.

Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen, und seine Augen funkelten geheimnisvoll.

Ich blickte ihn fragend an- eine Reaktion seinerseits blieb jedoch aus. 

Ich beschloss, diese Geste einfach zu ignorieren und schüttelte den Kopf. Kurze Zeit später folgte ein lautloses Lachen seinerseits. Dieses verschwand jedoch schnell wieder, als ein etwas älterer Mann zu seiner Linken ihm kräftig auf den Rücken klopfte und lachte. Seine Reaktion verriet, dass es wohl etwas zu kräftig für seinen Geschmack war.

Als ich einen Schluck Champagner nahm, versuchte ich, den bitteren Geschmack zu verbergen, der sich auf meiner Zunge ausbreitete. Es war ein teures Getränk, aber nicht unbedingt ein Genuss. „Camila." Ich zuckte zusammen und wendete mich langsam wieder meiner Mutter zu, die mich regelrecht anstrahlte. Ilja blickte zu ihr hinüber und übernahm das Wort. „Wir möchten dir etwas sagen." Oh nein. Ich ahnte Schlimmes. Ich nickte mit einem gequälten Lächeln. Ein Gefühl der Beklemmung überkam mich, als ich erkannte, dass etwas Großes bevorstand. „Ja. Was gibt's?" Ilja sieht erwartungsvoll zu meiner Mutter. „Möchtest du es Ihr sagen, Schatz?" In mir verknoteten sich Organe, von denen ich nicht einmal wusste, dass sie existierten. Mit einem stolzen Lächeln präsentierte sie mir den funkelnden Ring an ihrer Hand. „Wir haben uns verlobt!" Ich starrte auf den funkelnden Ring an der Hand meiner Mutter und versuchte, meine Gefühle zu sortieren. Überraschung, Verwirrung und ein Hauch von Ärger überfluteten meine Gedanken. Meine Mutter strahlte vor Glück. "Wir können es kaum erwarten, eine richtige Familie zu sein", sagte sie mit einem leuchtenden Ausdruck in ihren Augen.

DEAR JONATHANWo Geschichten leben. Entdecke jetzt