Kapitel 19

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Nach dem Essen setzte Eli mich noch zu Hause ab. Ich bedankte mich und winkte ihm zum Abschied. Dann wandte ich mich dem Haus zu und öffnete die Tür. Als ich den Flur betrat, war es wie immer ruhig. Durch die Glastür des Wohnzimmers schien nur ein schwaches Licht und fast wäre ich in dem Glauben, meine Mutter wäre schon schlafen, hochgegangen. Doch das Schluchzen, welches aus dem Wohnzimmer zu mir drang, ließ mich innehalten.

Ein ungewöhnlicher Anblick bot sich mir. Meine Mutter saß auf dem Sofa, Tränen in den Augen, und wirkte völlig aufgelöst. Normalerweise war sie stets darauf bedacht, ihre Emotionen hinter einer Fassade aus Stärke und Kontrolle zu verbergen, aber heute schien diese Fassade zu bröseln. Sie schien mich noch nicht bemerkt zu haben. Ich blieb stehen, unsicher, wie ich reagieren sollte. Weshalb weinte sie? Und wo war mein Vater? Ich trat langsam näher, versuchte, meine Schritte leise zu halten, um sie nicht zu erschrecken. Als ich mich ihr näherte, bemerkte sie mich schließlich und wischte sich schnell die Tränen aus den Augen. Ein schwacher Versuch, ihre Fassung wiederzuerlangen, der jedoch kläglich scheiterte.

"Mamá, was ist los?", fragte ich besorgt und setzte mich neben sie auf das Sofa. Ihre Miene war gezeichnet von Kummer, und ich spürte, wie sich mein Herz zusammenzog. Normalerweise war meine Mutter die personifizierte Stärke, aber in diesem Moment schien sie wie ein Häufchen Elend. Sie schluckte schwer. "Es ist nichts, Liebes", sagte sie mit erstickter Stimme, "es sind nur... geschäftliche Angelegenheiten."

Ich runzelte die Stirn, nicht überzeugt von ihrer Erklärung. "Du weinst doch nicht wegen geschäftlicher Angelegenheiten", beharrte ich sanft. "Was ist wirklich los?" Ein Moment des Zögerns verstrich, bevor meine Mutter schließlich ihre Schultern sinken ließ und einen tiefen Seufzer ausstieß. "Ich habe die Hochzeit abgeblasen", murmelte sie schließlich. Sie hatte was? Schließlich sah ich es auch. Der funkelnde Verlobungsring, den sie zuvor mit Stolz an ihrem linken Ringfinger getragen hatte, lag nun vor ihr auf dem Tisch und es schien, als hätte er dadurch all seinen Glanz verloren.

Der Schock durchfuhr mich wie ein Blitz. Die Hochzeit abgeblasen? Das war das Letzte, was ich erwartet hatte, besonders nach all den Vorbereitungen und der offensichtlichen Vorfreude meiner Mutter auf die Heirat mit Ilja. Inmitten der wirbelnden Gedanken und der ambivalenten Gefühle, die mich durchströmten, spürte ich einen Stich des Mitgefühls für meine Mutter. Obwohl ich nicht leugnen konnte, dass ein Teil von mir erleichtert war, dass meine Mutter die Verlobung rückgängig gemacht hatte, konnte ich nicht ignorieren, wie gebrochen und verletzlich sie wirkte. Es war, als ob sich etwas in ihr verändert hatte, seit mein Vater wieder aufgetaucht war. Ihre übliche Fassade der Stärke schien brüchig zu sein, und ich fragte mich, was hinter den Kulissen wirklich vorging.

Mit einem Kloß im Hals und einem zögerlichen Schritt näherte ich mich meiner Mutter, die regungslos auf dem Sofa saß. Langsam ließ ich mich neben sie sinken und legte vorsichtig meinen Arm um sie. "Es wird alles gut, Mamá", flüsterte ich leise, meine Stimme ein sanfter Versuch, Trost zu spenden. "Wir schaffen das gemeinsam." Ich spürte, wie sie sich ein Teil ihrer Anspannung in meiner Umarmung zu lösen schien. Nach einer Weile brachten wir wieder etwas Abstand zwischen uns und ich beschloss, vorerst nicht nach meinem Vater zu fragen, unsicher, ob er Teil des Problems war. "Du solltest schlafen, Camila. Du musst morgen wieder früh raus." So wenig ich diesen ungewohnten Moment der Vertrautheit auch zerstören wollte, meine Mutter hatte recht.

Ich ging hoch in mein Zimmer und beschloss, mich bettfertig zu machen und mich schlafen zu legen. Als ich am nächsten Morgen aufstand und fertig geduscht und umgezogen in die Küche trat, war meine Mutter wie ausgetauscht. Sie schien wieder ihre übliche Maske aufgesetzt zu haben. Ich nahm am Tisch Platz. "Guten Morgen, Mamá", sagte ich leise, doch ihre Antwort war knapp und klang kaum nach einem Gruß. "Guten Morgen, Camila. Iss dein Frühstück und dann ab in die Schule. Ab morgen ist Auguste wieder da." Ihre Worte waren kalt und schnörkellos, und ich spürte, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildete. Ich brachte nicht mehr als ein kurzes Nicken über mich. Schweigend aß ich mein Frühstück. Ein unbehagliches Gefühl breitete sich in meiner Brust aus. Kurze Zeit darauf verabschiedete sich meine Mutter von mir mit den Worten, sie müsste los zur Arbeit und verschwand durch die Haustür. Nun saß ich mit meinen Gedanken alleine am Tisch. Ich wusste noch immer nicht, welche Rolle mein Vater in dem Gefühlschaos meiner Mutter spielte, doch ich nahm mir fest vor, es herauszufinden. Aber zuallererst musste ich mich auf meine eigenen Baustellen konzentrieren.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Oct 16 ⏰

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