Kapitel 5

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„Ich kann nicht glauben, dass ich schon zum zweiten Mal freiwillig in diesem Auto sitze", stellte ich erschrocken fest. „Ich scheine irgendeine Art Anziehungskraft an mir zu haben", gab Jonathan neckisch von sich. „Wo fahren wir hin?", fragte ich mit einem Hauch von Neugier in meiner Stimme. „Weiß ich nicht, weg?", entgegnete er. „Und wann bringst du mich wieder nach Hause?", hinterfragte ich prüfend während neben mir die Lichter der Stadt vorbeizogen. „Weiß ich nicht. Wenn ich Lust hab, schätze ich. Falls ich Lust habe. Vielleicht auch gar nicht." Ich drehte mich vom Fenster weg in seine Richtung und sah, wie sich auf seinen Lippen ein leichtes Grinsen formte.

„Wirklich witzig", bemerkte ich nur.

"Weißt du was, Camila Amanda Flores?"

„Was denn, Jonathan.. warte, wie heißt du überhaupt mit Nachnamen?"

„Ein Lächeln würde deinem hübschen Gesicht glaube ich ganz gut tun."

Ich verdrehte nur die Augen, doch trotzdem schlich sich ein Lächeln auf meine Lippen. „Du hast meine Frage nicht beantwortet", sagte ich unerwartet entschlossen. „Ich weiß."

Danach gerieten wir beide in ein Schweigen, jedoch nicht in ein unangenehmes, ganz im Gegenteil. „Jetzt mal im Ernst, wo fahren wir hin?", hakte ich nach. "Ich weiß es nicht. Aber muss wirklich immer alles ein Ziel haben? Oder reicht es nicht vielleicht sogar, wenn das Ziel ist, einfach nur abzuhauen?" Ich schwieg für einen Moment. Alle seine Worte klangen so fern, so ungewöhnlich für mich. Als stammen sie aus einer anderen Welt. Und trotzdem saß er genau hier neben mir, seine Augen auf die Straße vor sich gerichtet. „Warum willst du unbedingt von hier weg?", fragte ich. „Die wichtige Frage ist ja: Was hält mich hier?", stellte er die Gegenfrage. „Deine Familie, deine Freunde?", erinnerte ich ihn. Ihm entfuhr nur ein verächtliches Lachen. Daraufhin folgte ein Kopfschütteln.

Jonathan griff in die Innentasche seiner Jacke und holte die Schachtel Zigaretten hervor. Er öffnete sie und holte eine einzelne Zigarette hervor, die er mit seinem Mund hielt und ansteckte. Er blies den Qualm aus, bedacht darauf, dass er nicht in meine Richtung ging. Er schaute aus dem Seitenfenster und wären die Straßen in diesem Moment nicht so leer, hätte ich vermutlich ein bisschen Angst um mein Leben gehabt. Sein Gesichtsausdruck strotzte nur so vor Melancholie. Ich beugte mich nach vorne um das Radio einzuschalten. Augenblicklich begann eine Kassette zu spielen. Ich kannte den Namen der Band und auch die Art von Musik nicht, aber sie gefiel mir.

„Gefällt's dir?", fragte Jonathan, als könnte er meine Gedanken lesen. Ich nickte kaum merkbar, doch er schien es trotzdem wahrzunehmen. „Mir auch", murmelte er leise und nahm einen weiteren Zug von seiner Zigarette. Nach diesen Worten entstand wieder Stille. In dem Moment fühlte es sich wirklich gut an, einfach nur schweigend nebeneinander zu sitzen und als ich dort saß, das Fenster runtergekurbelt und meine Haare offen, da verspürte ich zum ersten Mal seit langem Freiheit oder zumindest etwas vergleichbares. „Machst du das immer?", fragte ich. „Hm?", entgegnete er und warf mir einen kurzen prüfenden Seitenblick zu. „Einfach so Leute entführen", führte ich fort.

„Du bist freiwillig eingestiegen", bemerkte er und drückte seine Zigarette aus. Er hatte recht. Was auch immer in mich gefahren war. „Wo gehst du eigentlich zur Schule?", fragte ich. „Wer sagt, dass ich noch zur Schule gehe?"-„I-ich weiß nicht, ich hatte es einfach vermutet", stotterte ich vor mich hin. „Ich studiere. Zweites Jahr", gab er knapp von sich. „Und was?" Er machte eine abfällige Handbewegung. Wieso machte er aus allem so ein Geheimnis? Es war ja nicht so, als wenn ich ihn dafür verurteilen würde. Der Meinung war ich zumindest.

„Du solltest langsam nach Hause", murmelte Jonathan kaum hörbar. Ich schluckte. Eigentlich genoss ich diese Augenblicke gerade viel zu sehr als dass ich wollte, dass sie enden. Den Rest der Fahrt herrschte irgendwie eine komische Atmosphäre, aber ich weiß auch nicht, was wir erwarteten, denn wir waren nicht mehr als zwei Fremde.

DEAR JONATHANWo Geschichten leben. Entdecke jetzt