Jetzt
Als ich aufwachte, zitterte ich noch immer am ganzen Körper. Meine Stirn glühte und mir war abwechselnd heiß und kalt, sodass ich nicht wusste, wohin ich meine Decke legen sollte. Außerdem schmerzte mein ganzer Körper, was mich dazu veranlasste, einfach so liegenzubleiben und zu warten, dass es mir besser ging. Meine Augen hielt ich geschlossen und so versuchte ich nochmals einzuschlafen. Vergebens.
Wie sehr wünschte ich mir meine Mutter herbei, welche mich in den Arm nehmen und mir beruhigende Worte zuflüstern würde. Wie sehr wünschte ich mir jetzt, ihre bezaubernde Stimme hören zu können, ihren Gesang, das Lied. Wieso kann ich mich an dieses nicht erinnern? Es würde mir so sehr helfen. Es würde mir das Gefühl geben, dass sie immer noch da wäre, um mich zu trösten, zu stärken. Aber leider war das Gegenteil der Fall. Ich fühlte mich so schwach, wie schon lange nicht mehr und brauchte dringend eine Pause. Eine Pause von den Schmerzen, von den Erinnerungen, von meinem Vater. Vor allem von ihm.
Würde er jetzt kommen und mich so vorfinden, wie ich auf meinem Teppich dalag und nichts tat oder vielleicht sogar schlief, ich weiß nicht, was er dann machen würde. Bis jetzt hatte ich immer Glück gehabt. Nie ging es mir so schlecht, wie jetzt. Klar hatte ich mal eine Erkältung, Schwindelanfälle oder musste mich übergeben, aber nie ging es mir dabei so schlecht wie jetzt. Ich konnte immer aufstehen und mich vorbereiten, auf ihn. Körperlich sowie mental. Aber heute, heute ging das einfach nicht. Egal, wie sehr ich es wollte, es ging nicht. Ich war zu schwach. Zu schwach um aufzustehen, zu schwach um ihm entgegenzutreten. Einfach zu schwach. Wie ich dieses Gefühl hasse, ich verabscheue es. Schwäche. Was bringt dir Schwäche? Nichts, absolut gar nichts. Außer Schmerzen und Verzweiflung, Hass. Hass auf dich selbst für deine Schwäche. Hass auf dein Leben, Verzweiflung. Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Und all das durfte mir nicht passieren, sowas durfte ich nicht empfinden. Allein schon der Gedanke daranmachte mich hilflos.
Wenn er jetzt kommen würde, wär ich ihm total ausgeliefert, er könnte mit mir machen, was er wollte. Und er würde kommen, das wusste ich. Er würde kommen und keine Rücksicht auf meinen derzeitigen Zustand nehmen, das hatte er noch nie. Hauptsache, er konnte seine Wut raus lassen. Hauptsache er konnte sein Leben weiterleben, ohne Verluste. Hauptsache, ihm ging es dann wieder gut. Er, und nur er war wichtig. Nicht ich, denn ich war ein Nichts. Irgendwie da, aber trotzdem nicht anwesend. Lebend, jedoch tot. Ich befand mich auf einem schmalen Grat zwischen Aufgeben und Weitermachen. Zwischen Leben und Tod. Ein kleiner Schubser würde ausreichen, und ich würde fallen. Die Frage ist nur, zu welcher Seite. Leben oder Tod? Aufgeben oder Weitermachen?
Ich war Verzweifelt, das konnte man nicht leugnen. Verzweifelt und krank, genau wie er. Er, mein Vater. Er war seelisch krank, im Endstadium meines Erachtens. Niemand konnte ihm mehr helfen. Er war schon längst tot, ein Wrack, wandelte wie eine Leiche unter den Lebenden auf dieser Welt. Nach außen war alles okay, bestimmt lächelte er und tat in der Öffentlichkeit so, als wäre er der glücklichste Mensch auf Erden. Als hätte er den Tod seiner Frau und seiner Tochter problemlos überwunden. Als wäre alles in Ordnung, so, wie es sein sollte. Aber dem war nicht so.
Seine angeblich tote Tochter lebte noch, geradeso. Er hatte sie krank gemacht, mit seinen Phsychospielchen, seinen Worten, seiner gesamten Art. Sie war kaputt. Kraftlos. Nicht mehr im Stande weiterzuleben. Jetzt mehr denn je. Es war hoffnungslos.
Hoffnung. Mama, ich hoffe du verzeihst mir, wenn ich jetzt die Hoffnung aufgebe, die Hoffnung auf ein besseres Leben, auf eine Zukunft außerhalb dieses Gefängnisses, außerhalb der Klauen meines Vaters. Ich kann nicht mehr, hörst du? So oft habe ich in dem vergangenen Jahr überlegt, einfach alles zu beenden. Es wäre leichter gewesen, ich hätte keine Qualen mehr erleiden müssen, hätte nicht gesehen, wie Vater sich mehr und mehr auf den Abgrund zubewegt, sich vergisst, mich vergisst, dich vergisst. Ich glaube wirklich, er hat dich vergessen Mama. Ich wünschte es wäre nicht so, aber es ist die Wahrheit. Seit seinem Aussetzer vor einem Jahr, hat er nie wieder etwas über dich gesagt, mich nie wieder mit dir verglichen. Meine langen Haare wurden ihm egal, mein Aussehen wurde ihm egal, einfach alles wurde ihm egal. Er ist einfach genauso ein Wrack wie ich, bloß mit dem Unterschied, dass er sich selbst dazu gemacht hat. Zu einem Wrack, einer lebenden Leiche.
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Mia
Teen Fiction"Hoffnung. Ein Wort mit acht Buchstaben, aber enormer Bedeutung" Mia ist 17. Seit ihre Mutter bei einem Autounfall ums Leben kam, ist ihr Leben nicht mehr das gleiche. Sie lebt in einem Keller ohne Fenster und ohne Licht. Jeden Tag kommt ihr Vater...