Kapitel 10 - Neue Spielsachen

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7 Jahre zuvor

Ein Klingeln ließ mich aus meinem Schlaf hochschrecken. Was war das? Gebannt lauschte ich und tatsächlich erklang es noch einmal. Es kam von der Tür. Merkwürdig. Langsam stand ich auf und wartete. Worauf genau, wusste ich auch nicht so wirklich. Ich stand einfach nur da und wartete. Wartete auf das, was als nächstes geschehen würde, denn ich war mir sicher, es würde irgendetwas geschehen. Ob es mir gefallen würde oder nicht, stand noch offen.

Es vergingen noch ein paar Minuten, in denen ich einfach nur da stand und ab und an das Klingeln zu hören war. Mittlerweile war ich mir sicher, dass es eine Klingel war. Hey, einen riesen Applaus für diese tolle Schlussfolgerung, meine Damen und Herren! Und da war sie schon wieder. Darf ich euch vorstellen: meine kleine nervige Stimme im Kopf. Nicht sonderlich hilfreich, aber wenigstens hatte ich so jemanden, mit dem ich reden konnte. Jap, du kommst bestimmt in die Psychiatrie, wenn das so weitergeht. Ich schnaubte. Um in die Psychiatrie zu kommen, müsste ich es erstmal hier raus schaffen.

Plötzlich ertönte ganz laut der schrille Ton der Klingeln und riss mich somit aus meinem Gedanken. Es war so laut, dass ich mir sogar die Ohren zuhalten musste. Schwungvoll wurde auch schon die Tür aufgerissen und mein Vater stand grinsend im Türrahmen.

„Ja, ich sehe schon wir verstehen uns, Süße" sagte er. Völlig aus der Bahn geworfen, weil ich mir daraus nicht wirklich etwas Logisches erschließen konnte, stand ich einfach weiter im Raum herum und nahm langsam meine Hände von meinen Ohren, da ich diese vor Schreck immer noch auf ihnen hatte. Wieder einmal stand ich einfach nur da und wartete.

Tust du in letzter Zeit ja ziemlich oft. Ach halt die Klappe!

„So, nur für den Fall, dass du dummes Ding doch nicht ganz so verstanden hast, was ich meine" sagte er schließlich und schon lag ich auf dem Boden. Er hatte mich getreten. Einfach so. Ohne Vorwarnung. Völlig verwirrt schaute ich ihn an, versuchte dabei meine Gedanken zu ordnen und irgendwie einen logischen Zusammenhang herauszubekommen. Jedoch wurde meine Gedankengang durch einen weiteren Tritt, und dem damit folgenden Schmerz, unterbrochen.

„Immer wenn du jetzt dieses wunderschöne Läuten hörst, weißt du, dass ich komme. Und zwar wütend. Sehr wütend. Bin ich nicht gnädig? So kannst du dich drauf einstellen, dass ich länger bei dir bleiben werde, um meinen Spaß zu haben und wieder bessere Laune zu bekommen. Toll, nicht?" Mit jeder Satzgruppe folgte ein weiterer Tritt in meine Magengegend. Nur am Rande nahm ich seine Worte war und versuchte mir einen Reim auf das Alles zu machen.

„Ach und übrigens" sagte er und ließ nun endlich von mir ab, ging zur Tür und kam mit einem kleinen Koffer wieder. „Ich hoffe du weißt, dass das mit der ach so netten Miss Camille Adams nicht nur aus Spaß war." Man konnte den belustigten Unterton eindeutig aus seiner Stimme heraushören, und das gefiel mir so gar nicht. „Bestimmt hast du ihr aufmerksam zugehört, nun ja, dass hoffe ich für dich mal, ansonsten, hast du nämlich Pech!" Ein Grinsen bildete sich auf seinem Gesicht, was mir sofort einen eiskalten Schauer über den Rücken liefen ließ. Ich verstand immer noch nicht so ganz, es waren einfach viel zu viele Informationen auf einmal, die ich, dank den herrlichen Schmerzen, die er mir zugefügt hatte, einfach nicht so recht verarbeiten konnte.

Sehr viel Zeit, mir weiter darüber Gedanken zu machen, hatte ich nicht, denn auf einmal wurde ich ruckartig an meinen Haaren heraufgezogen, was mich sofort aufschreien ließ. Einmal, weil es einfach so unerwartet kam und, weil es echt wehtat. Daraufhin schaute mein Vater mich wütend an und schon hatte ich seine Faust in meinem Gesicht. „Ab heute sollst du nicht mehr schreien, geschweige denn sprechen. Ich will nie wieder auch nur einen Ton aus deiner mickrigen Kehle hören, hast du verstanden?!" schrie er mich an und sofort stiegen mir Tränen in die Augen. Wie konnte er nur so kalt sein? Und das auch noch zu seiner eigenen Tochter? Wieder spürte ich seine Hand auf meiner Wange und den brennenden Schmerz, der zurückblieb, als der Schlag schon längst vorbei war. „Du dummes Gör, und heulen sollst du erst recht nicht. Das ist ja peinlich!" Nochmal ein Tritt in den Magen und wieder fiel ich um. „Du bist erbärmlich, das ist wirklich das einzige was du bist. Und nutzlos. Ja genau, erbärmlich und nutzlos. Aber immerhin hast du jetzt verstanden, was ich meine, oder?" Hängte er zum Schluss noch zuckersüß hintendran. Er hatte sich vor mich hingekniet und drückte mein Kinn zu sich nach oben, sodass ich ihn in die Augen sehen musste, in seine hasserfüllten Augen. „Oder?!" ertönte es noch einmal, diesmal mit wesentlich stärkerem Nachdruck in der Stimme und schnell nickte ich. „Dann ist ja gut." sagte er, während er ruckartig mein Kinn wieder losließ und aufstand. „Und hier, den wirst du bestimmt jetzt des Öfteren brauchen" hörte ich ihn noch teilnahmslos sagen, bevor er mich mit dem kleinen Koffer abwarf und schließlich den Raum verließ.

Tränen traten aus meinen Augen und ich betrachtete den Koffer vor mir. Es war ein Erste Hilfe Kasten. Ich wusste, dass das nichts Gutes bedeuten konnte und so kamen immer mehr Tränen hinzu. Und plötzlich begriff ich. Schlagartig wurde mir bewusst, dass es jetzt erst richtig losging. Dass es jetzt noch viel schlimmer werden würde. Deshalb auch der Medizin-Crashkurs, damit ich selber meine Wunden versorgen konnte, und der Rote Kasten in meinen Händen. Ich konnte das immer alles noch nicht so wirklich begreifen. Ich glaube, das Schlimmste war noch nicht mal die Tatsache, dass ab jetzt alles schlimmer werden würde, sondern lediglich, dass ich ihm, meinen eigenem Vater so egal war, dass es ihn nicht juckte, wie es mir ging. Dass er sich nicht einen Dreck darum scherte, wie viele blaue Flecken ich haben würde oder ob ich eine Gehirnerschütterung hätte, geschweigedenn irgendwelche geprellten oder gar gebrochenen Rippen. Ich war ihm so egal. Er wollte einfach nur seinen Spaß, seine Wut ablassen, das hatte ich jetzt verstanden. Die Klingel war das beste Beispiel dafür.

Er war krank, das wusste ich nun zu Genüge. Der Tod meiner Mutter hatte ihn krank gemacht, hatte ihm den Lebenssinn geraubt, den Lebenswillen. Nur dieser eine Moment, dieser eine Moment voller Verzweiflung, Hass und Wut hatte ihn zu dem gemacht, was er heute war. Zu einem gebrochenen Mann. Zu einem Mann, dem seine Tochter von einer Sekunde zur anderen egal wurde. Zu jemanden, der zu schwach war, um sich seinen Gefühlen und der Situation zu stellen, den wichtigsten Menschen in seinem Leben verloren zu haben. Durch einen Autofahrer, der Fahrerflucht begangen hatte, sich nicht der Verantwortung, seiner Verantwortung, stellen konnte. Schlagartig wurde mir bewusst, dass mein Vater und der Typ, der für den Tod meiner Mutter und die drastische Veränderung in meinem Leben verantwortlich war, eigentlich gar nicht so verschieden waren. Beide rannten vor etwas davon, flüchteten vor der Verantwortung und dem Geschehenen. Rannten einfach immer weiter, ohne zu merken, dass sie dem Abgrund immer näher kamen und unaufhaltsam in ihn stürzen würden, wenn sie nicht aufwachten, sich ihrer Vergangenheit und den Fehlern stellen würden, die sie begangen hatten. Ob es schon zu spät war, umzukehren und sich zu stellen, wusste ich nicht. Ich glaubte aber fest daran, dass es nie zu spät sein würde zu bereuen. Bereuen was man getan hatte. Ob man Vergebung bekam, die Chance, auf ein neues Leben, war etwas anderes. Das konnte man nicht von jetzt auf gleich entscheiden, denn es war ein genauso langer Prozess, wie der des Umkehrens, des sich Stellens.

Ich seufzte und erhob mich langsam, um in mein Bad zu trotten, den Verbandskasten fest unter meinen Arm geklemmt. Dort angekommen legte ich den Koffer beiseite und zog vorsichtig mein T-Shirt aus. Dann drehte ich mich zu dem Spiegel um und schaute mich intensiv an. Meine linke Wange war feuerrot und meine Lippe sogar leicht aufgeplatzt, was mir erst jetzt auffiel. Überall dort, wo mich seine Tritte getroffen hatten, begann sich meine Haut bereits leicht zu verfärben. Dabei fielen mir auch andere Stellen auf, wo er mich vor längerer Zeit einmal geschlagen und getreten hatte. Diese hatten schon fast wieder ihre normale Farbe angenommen. Und in diesem Moment wurde mir eines klar, wahrscheinlich die wichtigste Lektion überhaupt.

Er konnte mich schlagen und treten solange er wollte, diese Schmerzen würden vergehen, die Verfärbungen würden wieder unsichtbar werden und irgendwann verschwinden, das wusste ich mit Sicherheit. Aber seine Worte, die Beschimpfungen, die er mir jeden Tag an den Kopf warf, würden bleiben, sich in mein Herz einnisten und nie wieder verschwinden. Und das, war das eigentliche Übel. Das, was mich nach und nach unaufhaltsam zum Fall bringen und solange an mir nagen würde, bis ich nicht mehr konnte und schließlich würde ich mich selbst verlieren, mich selbst aufgeben. Das war es, was mir am meisten Angst machte. Dass ich mich aufgab. Dass ich die Hoffnung aufgab und damit auch den Glauben, an ein besseres Leben, den Glauben an mich selbst. Doch genau das war es, was er wollte. Er wollte sehen, wie ich litt, wie ich nach und nach zugrunde ging. Erst dann würde er wieder glücklich werden. Und wir Beide wussten, dass er auf dem besten Weg war, um sein Ziel zu erreichen.

fuo

MiaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt