Ich wachte unter Schmerzen auf. Mein Kopf dröhnte und mir war schwindelig. So ein verdammter Mistkerl! Wie konnte er mir so etwas nur antuen? Eine Frage, welche so wie viele andere, wohl nie beantwortet wird. Ich lag auf dem Boden, genau da, wo ich bewusstlos geworden bin. Nicht einmal auf meinen Teppich hat er mich getragen, nein, er hat mich liegen lassen und ist einfach gegangen. Wie kann jemand nur so herzlos sein? Ich verstand das einfach nicht. Verspürte er denn überhaupt kein Mitleid? Nicht einmal ansatzweise? Schließlich war ich seine Tochter! Das kann einfach nicht sein Ernst sein!
Ich lag noch lange einfach auf dem Boden und verfluchte meinen Vater, schrie ihn an, dass er aufhören soll und wehrte mich. Wehren. Etwas, das ich noch nie gemacht habe, ich weiß nicht einmal warum. Wahrscheinlich einfach aus dem plausiblem Grund, dass er mein Vater ist. Ich seufzte doch zuckte im nächsten Moment schmerzerfüllt zusammen. So eine Scheiße aber auch!
Mir war klar, dass ich mich dringendst aufrappeln, zum Bad gehen und meine Wunden versorgen musste. Also atmete ich noch einmal tief ein und aus und stemmte mich schließlich mit zusammengebissenen Zähnen nach oben. Ich stand. Die Frage war nur, für wie lange.
Vorsichtig tastete ich mich an der Wand vorwärts, immer einen Fuß vor dem anderen, den Blick gesenkt, um nicht hinzufallen. So langsam müsste ich doch an der Badtür sein... dachte ich und schaute hoffnungsvoll ich auf. Mein Blick verfinsterte sich sofort, als ich sah, wie weit ich noch von dem Bad entfernt war, wie weit ich noch von meiner Sitzmöglichkeit – dem Klodeckel – entfernt war und wie weit ich noch von dem Verbandskasten entfernt war. Ich schnaubte. Das konnte doch alles nicht wahr sein! Mühevoll setzte ich meinen Weg fort, versuchte die erneut aufkommende Übelkeit zu unterdrücken und mich auf mein Ziel zu konzentrieren. Einen Fuß vor den anderen Mia, einen Fuß vor den anderen.
Quälend langsam kam ich meinem Ziel näher. Als ich das nächste Mal den Blick hob, war ich nur noch gute drei Schritt von der Tür entfernt. Du schaffst das Mia, sprach ich mir selber Mut zu. Noch drei Schritte: eins, zwei, drei. Geschafft. Schwer atmend machte ich halt, öffnete die Tür und ließ mich sogleich auf meinen geliebten Klodeckel fallen. Ich hatte es geschafft. Endlich. Ich ließ meinen Kopf in den Nacken gleiten und lehnte ihn gegen die Wand. Tief durchatmen! Am liebsten hätte ich ewig so verweilt, aber meinem Körper würde das ganz sicher nicht gefallen. Also hielt ich mich am Waschbecken fest und stand auf.
Als ich mich im Spiegel betrachtete, fiel mir zuerst die Wunde an meiner rechten Wange auf. Dort, wo die Peitsche sie getroffen hatte, war meine Haut leicht aufgerissen und rot angeschwollen. Das würde eine schöne Narbe werden!, dachte ich. Das schlimme daran, war nicht einmal die Wunde selbst, sondern das jedermann sie sehen konnte, würde ich hier jemals rauskommen. Mein Vater hat daran nicht einen Gedanken verschwendet, dass ich nun für immer eine 5cm große Narbe im Gesicht hätte, mich alle Leute dumm anstarren und hinter meinem Rücken tuscheln. Wahrscheinlich glaubt er ernsthaft, dass ich hier nie wieder herauskommen werde und ehrlich gesagt, zweifle ich daran sogar schon selbst.
Bei diesen Gedanken stiegen mir Tränen in die Augen, was mich im nächsten Augenblick unheimlich wütend werden ließ. Nein! Sowas durfte ich nicht denken! Ich würde hier rauskommen, ich würde das hier überleben und meine Narben, würde ich mit Stolz tragen, denn sie bewiesen, dass ich überlebt hatte, dass ich die Hölle auf Erden überwunden hatte!
Mit meinem Handrücken wischte ich mir die Tränen aus den Augen und betrachtete mich erneut im Spiegel. Diesmal sah ich nicht die ganzen Nachteile von meinem verunstalteten Gesicht, ich sah die Vorteile. Die Wunde strahlt Standhaftigkeit aus, niemand würde mich je bezwingen können und jeder würde mich bewundern. Über diesen Gedanken musste ich lächeln. Das wäre schön. Wieder schmerzte mein Rücken und so wurde ich aus meiner Träumerei gerissen. Ich zog mir mein zerrissenes Shirt über den Kopf – das würde ich wohl nie mehr tragen können – und holte den Verbandkasten aus dem Wandschrank heraus. Zuerst betrachtete ich meine Arme und stellte mit erleichtern fest, dass diese nicht stark getroffen wurden. Also nahm ich mir ein Tuch, machte es nass und strich damit über die Wunden. Dann nahm ich mir einen Verband und wickelte ihn um meine Arme. Puh, das war erst einmal geschafft. Fehlten nur noch Beine und Rücken.
Ich entschloss mich dazu, zuerst meine Beine zu versorgen, da ich wieder dringendst eine Sitzpause benötigte. An meinem linken Knöchel war eine leichte Risswunde zu erkennen und so verfuhr ich wie bei meinen Armen: nasses Tuch und Verband. Mein rechter Oberschenkel sah schlimmer aus. Dort klaffte eine schöne offene Wunde, um die 10cm lang, welche bereits zu eitern begann. Also nahm ich mir wieder mein Tuch, bestrich etwas Jod – ein Antiseptikum und Desinfektionsmittel - darauf und trug es auf die Wunde auf. Danach nahm ich mir noch mein Aloe Vera Gel und strich dieses ebenfalls sanft auf die Wunde. Zum Abschluss verband ich dieses Bein ebenfalls noch und anschließend geleitete mein Kopf wieder in den Nacken und gegen die Wand. Tief durchatmen! Du schaffst das Mia!
Noch ein letzter tiefer Atemzug und ich erhob mich mühevoll von meinem gemütlichen Sitzplatz. Ich stand mit geschlossenen Augen vor dem Spiegel. Ich hatte Angst, was ich nun sehen würde. Langsam öffnete ich erst das eine und dann das andere Auge. Sobald sie offen waren, sog ich scharf die Luft ein. Mein ganzer Rücken war voll mit roten Striemen und offenen Wunden. An manchen Stellen hingen sogar Hautfetzten herab, die mir einen Schauer über den Rücken laufen ließen. Übelkeit überkam mich, doch ich zwang mich ruhig zu bleiben und atmete wieder tief durch. Die Hände auf den Waschbeckenrand gestützt und mit geschlossenen Augen stand ich nun da, wartete, dass die Übelkeit nachließ.
Erneut quälte mich die Frage, warum er mir das antat. Warum er zuließ, dass ich, seine Tochter, so leidet. Ich schüttelte den Kopf und öffnete langsam wieder die Augen. Die Übelkeit war weg – wer weiß für wie lange, dachte ich und begann sofort mit meiner Arbeit. Mit zusammengebissenen Zähnen strich ich mit dem nassen Tuch sanft über meinen Rücken. Es war sehr anstrengend, denn die Schmerzen nahmen immer mehr zu und so fiel es mir schwer, gerade stehen zu bleiben. Als nächstes verarztete ich meinen Rücken mit dem Jod – das Aloe Vera Gel setzte diese Runde aus, es wäre einfach zu schmerzhaft gewesen. Ich musste wieder eine Pause machen, schloss deshalb kurz die Augen und atmete die kühle Kellerluft ein. Du hast es gleich geschafft Mia, hör jetzt nicht auf! Wieder öffnete ich die Augen und suchte mir einen großen Verband. Diesen wickelte ich nun um meinen schmerzenden Körper und atmete erleichtert aus, als ich fertig war. Geschafft. Endlich.
Ich drehte den Wasserhahn auf und spritze mir sanft die kühle Flüssigkeit ins Gesicht. Danach formte ich meine Hände zu einer Schüssel, ließ Wasser hinein fließen und trank es gierig aus. Dieser ganze Prozess hatte mich sehr durstig gemacht. Ich verharrte noch eine Weile im Bad, bis ich mich dazu durchringen konnte, den langen Weg zu meiner Kommode auf mich zu nehmen. Dieser schien noch länger, als der zum Bad zu sein und so kam ich nach gefühlten Ewigkeiten endlich an dem braunen Teil an. Ich hielt mich am Holz fest und öffnete nach einer kurzen Pause die oberste Schublade und kramte darin herum. Plötzlich berührten meine Finger etwas kleines Kaltes. Mein Medaillon. Meine Mutter. Hoffnung. Ich schüttelte den Kopf, um an keine weiteren Erinnerungen zu denken, legte ein paar T-shirts auf den Anhänger und nahm mir schließlich ein weißes sehr sehr weites Shirt heraus. Es war perfekt, da es sich wohltuend an meinen Körper schmiegte, jedoch nicht eng anlag. Schnell zog ich es mir über und wankte zu meinem grünen Teppich. Grün. Hoffnung. Langsam ließ ich mich darauf gleiten und deckte mich mit meiner Decke zu. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich leicht zitterte. So eine Scheiße aber auch! Sofort musste ich mich an damals erinnern, als meine Mutter noch lebte.
Es war Winter und ich hatte mir eine schlimme Grippe eingefangen: ich hatte Fieber, mir war abwechselnd kalt und heiß und nicht selten musste ich brechen. Damals war ich gerade einmal sechs Jahre alt. Meine Mutter saß jeden Tag an meinem Bett und hat mir zugeredet. „Das wird schon wieder Liebes" sagte sie sanft „Weißt du, immer wenn ich krank bin, denke ich daran, dass es mir irgendwann wieder besser geht. Dann sehe ich mich rumhüpfen und lachen, während ich mit euch zwei Nasen im Sonnenlicht spazieren gehe." Sie lächelte mir aufmunternd zu und zwinkerte. „Ich weiß Mommy, aber das ist manchmal echt schwer."
„Ich weiß mein Schatz, und genau in diesen schweren Momenten hilft es, liebe Menschen um sich zu haben, die einen trösten und Mut zusprechen. So, und jetzt solltest du versuchen zu schlafen, denn neben aufmunternden Worten ist Schlaf mit das Wichtigste!" Sie gab mir einen Kuss auf die Stirn und fing an, ein Lied zu summen. Es war wunderschön. Leider kann ich mich nicht mehr an die Melodie erinnern, sie ist mit ihr gestorben.
Ich musste lächeln, aber es war eher ein trauriges lächeln, denn wieder einmal wurde mir bewusst, dass ich niemanden hatte. Niemanden, der mir aufmunternde Worte zuflüsterte. Niemanden, der mich in den Schlaf sang. Niemanden, dem ich wichtig war.
Ich kuschelte mich noch mehr in meine Decke ein und verdrängte all das, was mich an die glücklichen Zeiten erinnerte. Denn Stärke kommt nicht von Gefühlen, sie kommt vom Kalt sein.
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Mia
Teen Fiction"Hoffnung. Ein Wort mit acht Buchstaben, aber enormer Bedeutung" Mia ist 17. Seit ihre Mutter bei einem Autounfall ums Leben kam, ist ihr Leben nicht mehr das gleiche. Sie lebt in einem Keller ohne Fenster und ohne Licht. Jeden Tag kommt ihr Vater...