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Jonathan

Es ist dunkel um mich herum.
Mehr ist da nicht. Kein Gefühl.
Ich kann mich nicht bewegen. Etwas sagt mir, dass das normalerweise die Stelle wäre, an der ich Angst bekomme, aber es kommt mir alles so... normal vor.
Es ist nicht kalt, nicht warm.
Ich kann nicht sagen, wo ich bin. Wer ich bin. Oder sollte es Was ich bin heißen? Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts. Sind meine Augen offen?

Ein Bild erscheint. Erst verschwommen, dann immer klarer. Es ist ein Mensch. Eine Frau, glaube ich. Ich kenne sie nicht, aber woher auch? Ich erinnere mich an nichts. Existiere ich überhaupt? Lebe ich?

"Hallo, Jonathan."

Jonathan. Ist das mein Name?

"Ich denke, es ist an der Zeit, dir einige Dinge zu erklären. Du musst sehr verwirrt sein, was hier vorgeht."

Irgendwo, im hintersten Teil meines Kopfes, schreit eine Stimme, ich solle sie erkennen. Die Stimme klingt gedämpft, wie durch Stein hindurch. Ein Kerker.

Jemand anders, eine tiefere Stimme, sagt etwas. Dann wieder die Frau: "Ach so. Verzeih' mir, Jonathan. Du hast keine Erinnerung. Na, wie dem auch sei. Ich werde dir jetzt einige Sachen erklären. Aber vorerst..."

Das Bild flimmert, wie bei einem alten Fernseher. Es ist wieder fast komplett dunkel. Ich sehe einen möblierten Raum aus einer Perspektive vielleicht drei Meter über dem Boden. Nur wenige kleine Lampen erhellen die Szene und werfen Licht auf vier Gestalten. Eine ziemlich groß und mit breiten Schultern, dann eine fast genau so groß aber viel schmächtiger, eine dritte Gestalt, ziemlich nah an der zweiten und eindeutig weiblich, und die vierte war kleiner als sie alle und hatte wilde Locken.

"Wen töten wir heute?", fragt der kleinste, offensichtlich noch ein Kind. Ich schätze ihn auf zehn, vielleicht etwas älter.

Niemand antwortet, aber die Frau deutet auf eine Tür.

"Vanessa? Okay, cool. Was soll ich machen? Einfach nur zusehen wie letztes mal oder habe ich eine bestimmte Aufgabe?"

Oh Mann, der Junge redet viel.

"Hey! Ignoriert ihr mich oder so? Ma-"

Schneller als ich gucken kann ist der erwachsene Mann bei ihm und presst ihm die Hand auf den Mund. "Hector", zischt er, "Sei. Still."

Sie betreten einen Raum. Einige Sekunden später ertönt ein greller Schrei.

Das Bild flackert wieder und ich sehe nicht länger den großen Raum sondern die Frau.

"Du bist Teilnehmer eines Spieles. Werwolf. Es hat Ähnlichkeit mit unserer Testreihe, aber dazu später mehr." Sie lächelt süßlich. "Die Personen, die du da gesehen hast sind die Werwölfe. Haylie, Max, Viktor und Hector. Einer ist bereits enttarnt und getötet worden. Valerian. In jeder Nacht suchen sich die Werwölfe ein Opfer aus. Es kann jeder sein."

Warum erzählt sie mir das?

"Das ist eine gute Frage."

Ich blinzele. Habe ich etwas gesagt? Ich kann doch gar nicht sprechen, jedenfalls nicht im Moment.

"Ich erzähle es dir, weil du nicht die Chance bekommen wirst, es irgendwem zu erzählen. Du hast die Karte des Testleiters gezogen. Das bedeutet, dass du eine Nacht durch meine Augen erlebst."

Ich hätte gerne eine sarkastische Bemerkung gemacht. Passt das überhaupt zu mir?

"Wo war ich? Ach ja. Also, dieses Spiel ist dazu da um eure Reaktionen auf solche Situationen zu testen, hier aufgebaut als nur eine Aufgabe."

Die Aufgabe ist, dass wir alle sterben?

"Du hast es erfasst. Ihr seid hier um zu sterben. Niemand überlebt einen dieser Tests." Sie blickt zu Boden. "Nicht einmal ich. So sind die Regeln." Sie deutet auf einen der Bildschirme. "Ich will dir noch etwas zeigen. Ein paar Bilder aus vergangenen Tests."

Eine Diashow beginnt. Jedes Foto zeigt mindestens einen bereits toten Menschen oder jemanden, der gerade stirbt.

"Der letzte Test wurde geleitet von Bonnie." Das Bild von einem lebendigen blonden Mädchen wird gezeigt. Sie ist blutverschmiert und hat Tränenspuren auf dem Gesicht. Das Bild von einem Jungen erscheint. Er sieht vollkommen erledigt aus. "Das hier ist der Gewinner von Test 13. Er ist gerade dabei, Test 14 vorzubereiten. Wie du siehst sind unsere Tests normalerweise für Jugendliche und Kinder. Bei deinem Test sind aber auch ältere Leute dabei. Du bist Einunddreißig."

Ich weiß es nicht, aber es klingt richtig.

Ein Video wird abgespielt. Man sieht einen Körper mit aufgeschnittener Brust, der von der Decke hängt. Daneben steht ein Junge, der den Leichnam mit starrem Blick beobachtet und ein Mädchen, das die Kamera anschreit.
Im nächsten Clip sind eine Hand voll Leute zu sehen, die mit Pfeil und Bogen aufeinander schießen.
Der dritte zeigt eine Rangelei in einem weihnachtlich dekorierten Raum, bei der ein Mädchen von einer Eisenstange aufgespießt wird.

"Siehst du diese Leute hier? Die meisten von ihnen sind Tod. Genau wie alle hier." Ein paar Bilder von toten, teilweise zerfetzten Menschen in Betten werden gezeigt.

Etwas hämmert von innen gegen meinen Schädel, schreit mich an, ich soll die Leute erkennen, aber da ist nichts.

"Ich denke, das ist alles, Jonathan." Die Frau lächelt mich an. "Es tut mir sehr, sehr Leid."

Ein stechender Schmerz zuckt durch meinen ganzen Körper.

WerwolfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt