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Mein Blick ist starr auf Alexas Leichnam gerichtet. All die Wut, die ich gerade noch verspürt habe, ist fort. Jetzt ist dort einfach nichts.
Sie war die letzte. Niemand ist mehr übrig. Nur ich und die leblosen Körper. Leute, denen ich dass Leben genommen habe. Leute, denen ich nahe stand. Mia. Max. Valerian. Viktor.

Ich will weinen, ich will schreien, aber es ist nichts übrig. Keine Wut, keine Zufriedenheit, keine Trauer. Nur ich und die Leere in meinem Inneren.

In einer Ecke ist eine Kamera angebracht. Ich wollte etwas sagen. Ich habe mir eine Rede zurechtgelegt. Ich wollte sie fragen, ob sie zufrieden sind. Ob sie hätten, was sie wollten, nun dass ich nie wieder ein normales Leben führen kann. Nie wieder ruhig schlafen kann, nicht ohne Alpträume von all den grausamen Szenen, die ich in den vergangenen Tagen gesehen habe.

Ich öffne den Mund, versuche, die Worte über die Lippen zu bringen, aber meine Kehle ist wie ausgetrocknet.

Erst jetzt realisiere ich vollständig, was passiert ist. Ich habe Menschen getötet. Ich habe Leben genommen.

Aus dem Lautsprecher ertönt ein Rauschen. Ich zucke zusammen. Endlich kann ich mich aus der Starre lösen und in mein Zimmer rennen. Ich greife mein vollgezeichnetes Notizbuch, das, dass ich gerade erst angefangen habe und eine Packung Stifte. Im Hauptraum reiße ich die Zeichnungen von uns allen von den Wänden.

Die Tür, die bis jetzt immer verschlossen war, steht einen Spalt offen.

Ich werde einen letzten Blick auf den nun leeren Raum. Die meisten Stühle stehen gestapelt in den Ecken. Auf dem Altar steht Stapel mit Charakterkarten. So viel Blut. Alexas und Claudias Leiche. All die Dinge, die ich nie wieder sehen will.

Ich verlasse den Raum. Der Flur ist lang, mit weißen Wänden, erhellt von einem bläulichen Licht. Bis auf die Metalltür zu einem Aufzug am Ende des Ganges ist nichts zu sehen.

Ich stelle mich in den Aufzug und sehe unschlüssig auf die Knöpfe, nummeriert mit Zahlen von 1 bis 52. Ich zucke schon wieder zusammen, als sich die Türen zu schließen beginnen, ohne dass ich irgendeinen Knopf gedrückt habe.

Eine viel zu fröhliche Fahrstuhlmusik ertönt. In Schneckentempo bewegt er sich nach oben. Nach einigen Sekunden rückt es, ich spüre ein Übelkeit erregendes Ziehen in meinem Magen und die Türen gleiten auf.

Ich bekämpfe das Bedürfnis mich zu übergeben und sehe stattdessen in den ebenfalls weiß gestrichenen Flur, der diesmal allerdings von Türen gesäumt ist. An der rechten Seite ist eine Blutspur, die aussieht, als seie jemand mit den Fingern an der Wand hier entlang gelaufen.

Die Türen sind versehen mit laminierten Schildern. Angefangen bei Test 8 bis hin zu Test 14. Ich rüttele an der Türklinke des mit "Werwolf" beschrifteten Raumes. Er ist verschlossen. Ich probiere auch die anderen Türen aus. Keine geht auf.

Ich laufe zurück zum Aufzug und beginne, wahllos Knöpfe zu drücken. "Sie sind nicht autorisiert, dieses Stockwerk zu betreten", sagt die süßliche und monotone Stimme immer wieder.

Ich setzte mich im Flur auf den Boden und vergrabe meinen Kopf in den Händen. Ich weiß nicht, wie lange ich so dasitze, bis jemand meinen Namen sagt. Ich reagiere nicht.

"Haylie", sagt er, nun etwas lauter. "Haylie, sie mich an."

Ich hebe meinen Kopf. Als ich ihn endlich ansehe lächelt er und streckt mir eine Hand hin. Ich nehme sie und er hilft mir auf.

"Hallo. Ich bin Gerry."

Er scheint nicht älter zu sein als ich, sechzehn oder siebzehn. "Meinen Namen kennst du ja anscheinend", erwiderte ich.

Er nickt. "Ich weiß, was mir dir passiert ist. Ich habe zugesehen."

Ich trete einen Schritt von ihm zurück.

"Ich weiß wie es ist, seine Freunde Sterne zu sehen. Ich bin der Überlebende von Test 13."

Ungläubig schüttele ich den Kopf. "Ich habe nicht nur meine Freunde sterben sehen. Ich habe Leute umgebracht. Ich kenne das Gefühl von reißendem Fleisch, wenn den Puls immer schwächer wird. Frisches Blut..." Ich beiße mir auf die Unterlippe, um die Tränen zurückzuhalten.

"Haylie. Es ist vorbei."

Ich sehe Gerry mit verschwommenem Blick an. "Kann ich... Kann ich nach Hause?"

Er schüttelt den Kopf. "Nein. Niemand kann nach Hause. Sonst würde ich nicht mehr hier sein." Er macht eine kurze Pause. "Die Leute, die mit mir und durch mich gestorben sind... Ich kannte sie. Wir waren zusammen in der Schule. Es ist vorbei, aber es lässt einen nie los."

Ich wische eine Träne von meiner Wange. "Was passiert dann mit mir?", frage ich, bemüht das Zittern in meiner Stimme zu verbergen.

"Ich weiß es nicht. Für die Überlebenden der Testreihe gibt es klare Regeln, aber was dich betrifft..."

Es gelingt mir nicht, ein Schluchzen zu unterdrücken. Gerry geht auf mich zu und nimmt meine Hand: "Komm, ich zeig dir was.

Ich folge ihm in den Raum, auf dem Test 14 steht. "Das ist der Test, den ich leite", erklärt er. "Er läuft seit einigen Tagen. Ich bin nicht stolz drauf", fügt er schnell hinzu. "Sieh mal."

Er deutet aus dem großen Fenster. Unter uns ist ein Dorf, das ziemlich alt wirkt. Es ist, soweit ich es erkennen kann, aus grauem Stein. Man kann noch die Überreste einer Mauer, die sich quer durch das Dorf zieht, erkennen.
Ich lege meine Hände auf die Glasscheibe.
Einige Leute laufen durch die Straßen. Einer sieht zu mir auf, bleibt einige Sekunden stehen und geht dann weiter.
Ich muss unwillkürlich Lächeln. Es erinnert mich an ein Buch, das ich mal gelesen habe. "Paper Town", flüstere ich.

Es klopft an der Tür. "Gerry? Du sollst runter kommen in den fünften."
Ich drehe mich um. Ein Mann Mitte vierzig steht dort. Er ist kräftig gebaut und hat ein umwerfendes Lächeln.

"Kann ich dich kurz alleine lassen?", fragt Gerry. Ich nicke. "Ich bin gleich wieder da."

Kaum ist er weg schließt der andere Mann die Tür hinter ihm. Er grinst mich hinterlistig an. "Und was machen wir mit dir, kleiner Werwolf?"

"Ich bin nicht wirklich ein-"

"Doch, bist du", unterbricht er mich. "Du würdest zwar nicht gebissen, aber du bist ein Werwolf." Er holt sein Handy heraus und hält es mir hin. "Das ist Vickie. Sie hat den Test geleitet."

Er drückt auf Play und ein Video beginnt zu spielen.

"Hallo, Haylie", sagt die Frau auf dem Bildschirm. "Du hast gewonnen. Ich gratuliere dir. Vielleicht bist du mit unseren Regeln mittlerweile vertraut, vielleicht aber auch nicht. Haylie, Es tut mir Leid um die Leute, die du verloren hast und die, die du töten müsstest."
Sie greift nach etwas, das nicht im Bild zu sehen ist. Dann sieht sie direkt in die Kamera.
"Ich bin froh, meinen Beitrag zur Testreihe geleistet zu haben. Ich, Vickie, melde mich ab. Auf Wiedersehen."
Sie hält sich eine Pistole in den Mund und drückt ab.

Ich schlage mir die Hände vor die Augen. Der Mann steckt das Handy wieder weg.

"Nun dann, Wölfchen. Jetzt ist niemand mehr da, der dich beschützen kann. Keine Vickie, kein Gerry."

Er zieht eine Spritze mit einer klaren Flüssigkeit aus seiner Jackentasche und nimmt sie mit einer schnellen Bewegung in meinen Arm.

"Viel Spaß bei Test 14."

WerwolfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt