19: Wahrheit

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Ich war hellwach. Doch hatte ich Angst davor aufzustehen.

Egal wie verständnisvoll und ruhig Vishous sich gestern verhalten hatte, konnte, musste, er heute doch nur all die Wut zusammengebündelt haben.

Ich hob den Kopf, ließ meinen Blick durch das Schlafzimmer wandern, genoss die Ruhe für einen Augenblick und stand dann langsam auf.

Vorhin hatte ich so getan, als würde ich noch schlafen, um dem unangenehmen Moment mit Vishous zu entgehen, doch gab es kein entkommen für mich.

Er hatte die Wahrheit verdient. Vielleicht sogar viel früher.
Doch da war ich mir noch nicht bewusst gewesen, wie weit es mit uns gehen würde.

"Guten Morgen", meinte Vishous, fröhlich wie immer, als ich die Küche betrat.
Er saß mit einem Stapel frisch gekaufter Pancakes am Tisch, aus denen ein angenehm süßer Geruch durch die Luft strich.

Er lächelte mich an und ich senkte den Blick schnell.

"Setz dich."

Ich tat, wie mir befohlen.

"Erst essen oder erst reden?", fragte er sanft und ich atmete tief ein.

"Erst reden."

Er nickte, verständnisvoll.

Er legte die Tabletten auf den Tisch und sah mich an.

"Willst du mir das zuerst erklären?"

Ich hätte fast darüber gescherzt, ob er nicht lesen konnte, ließ es aber und legte meine Hände auf meinen Knien ab.

Ich fühlte mich wie bei einem Verhör. Doch so wollte ich nicht anfangen.

"Darf ich von vorne anfangen?", fragte ich leise und abermals nickte Vishous, mit diesem verständnisvollen Ausdruck in seinem Gesicht. Es nahm das Thema ernst und ich war froh darüber.

"Es ist dumm..", murmelte ich und seufzte.

"Ist es nicht. Nichts ist dumm, wenn es dich beschäftigt", sagte er sanft und hielt mir seine Hand hin.

Ich verstand und legte meine Hand zögerlich in seine, drückte sie dann fest. Tatsächlich fühlte ich mich nun etwas besser, mit ihm zu reden.

"Es.. es hat angefangen mit Höhenangst", begann ich leise und Vishous lächelte mich mit seinen strahlend blauen Engelsaugen an.
Mein Blick sank wieder.

"Es wurde schlimmer und dann hat meine Mutter mich in Therapie gesteckt."

Ich musste wohl nicht erwähnen, dass es danach nur noch schlimmer geworden ist - es gab Verbesserungen in meiner Toleranz für manche Dinge, aber trotzdem war die Angst immer da.

"Ich darf nach Isaac wahrscheinlich nicht einmal eine Selbsteinschätzung machen, aber aus Angst wurde Frustration und dann.."
Ich lachte am Anfang des Satzes leicht, wurde gegen Ende immer leiser.

Dann nahm ich die Packung mit meiner freien Hand und zeigte sie ihm, als hätte er sie davor nicht schon genug studiert.

"Die helfen bis jetzt am Besten."

Ich wusste über die Monate nicht einmal mehr, ob ich mir das einredete oder es wirklich so war.

Vishous war leise. Eine ganze Weile.
"Und das ist schon lange so..?"

"Es hat angefangen bevor ich überhaupt in den Kindergarten gekommen bin. Es hat sich über die Jahre nur.. weiterentwickelt", versuchte ich nett zu formulieren.

Er drückte meine Hand - ich hatte fast Angst, er würde sie vollkommen zerquetschen, bis er seinen harten Griff löste.

"Wieso hast du nicht früher mit mir geredet? Dann wäre ich für so eine Eskalation vielleicht gewappneter gewesen", entgegnete er halb grinsend und streichelte meinen Handrücken.

Don't let me fall (boy x boy)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt