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Es ist dunkel. Ich spüre ein Ziehen. -Oh nein...- Ich öffne müde meine Augen und sehe wie die Sonne untergeht. Ich spüre, dass heute Vollmond ist. Geschockt springe ich putzmunter auf, aber bevor ich irgendwo hin sprinte spüre ich einen Geruch. Ein Bett riecht nach Schokolade, Gras, altem Papier und... Vollmond. So riecht Remus! Und die Gerüche seiner Freunde kann ich auch noch aus machen! Ich seufze auf und sehe aus dem Fenster, wie die Rumtreiber -  Remus ausgeschlossen - aus der peitschenden Weide hervor krabbeln, und schnell Richtung Schloss rennen.  Verwirrt fokussiere ich meinen Blick neu und versuche auszumachen, wie die Jungs unter dem Baum hervorgekommen sind. Plötzlich höre ich ein Geräusch aus dem Büro von Madame Pomfrey, aber als die Dame hervor kommt, bin ich schon reflexartig aus dem Fenster geflüchtet. -Und was jetzt?- ~Ich habe keine Ahnung, aber sie wird bald das offene Fenster bemerken und dann sitze ich hier auf dem Sims!~ Plötzlich durchfährt mich ein Schmerz und ich heule auf. Die Verwandlung ist, wie immer, sehr schmerzhaft und ich kann nichts gegen sie machen. Und da ich auch noch auf diesem kleinen Fenstersims sitze, werde ich zusätzlich wütend. Aber plötzlich verliere ich mein Gleichgewicht und wie in Zeitlupe falle ich runter...

Zum Glück falle ich nur aus der ersten Etage. Mein zweites Ich rappelt sich auf und schüttelt sich. Genervt knacke ich mit meinem Genick, mit wildem Blicke fange ich an zu sprinten. Ein schauerliches Geheul ruft mich zu sich. Es ist zwar sehr leise, aber ich höre es laut und deutlich. Es ist ein starkes, dominantes Geheul, und es macht mich aggressiv und kämpferisch. Niemand ist mir überlegen! Ich werde es dem Wesen noch zeigen!  Auf dem Weg zu der Quelle des Geräusches verzehre ich ein Kaninchen, was mir zu seinem Pech genau in die Klauen gehüpft ist.

Je lauter das Geheul wird, desto wütender werde ich. Desto mehr verabschiedet sich mein Verstand. Ich komme um ein kleines Dorf und schnell renne ich auf ein verlassenes Haus zu. Aggressiv erwidere ich das Geheule und reiße die Tür aus den Angeln, mich durch das magische Schild drückend. Dieser mickrige Schutz ist nichts gegen mich! Dominant fauche ich nach oben, wo sich etwas befindet. Ich knurre laut und fletsche meine Reißzähne. Ein Feuer entfachtet sich in meinen Augen, als ich schon fast verspielt raus in die Landschaft renne und dieses etwas - ein Werwolf - hinter mir her rennt. Wir sind im Wald, als wir uns aufeinander stürzen. Mein Instinkte  übernehmen meinen eh schon vernebelten Verstand und ich greife an.  Es ist ein sehr blutiger Kampf, als mich der Wolf am Kopf trifft wache ich aus meiner tiefen Trance auf. Ich bin wieder ich und erkenne etwas. Geschockt bleibe ich gekrümmt am Boden und knurre den Wolf warnend an. Dann schnuppere ich wieder. ~Unmöglich...~ -Es ist Remus!- aber bevor ich weiter denken kann übernimmt wieder mein Monster-Ich, schwappt mit so einem Tsunami über mich hinweg, dass mein Inneres gefühlt einen Knacks bekommt. Dass ich vor Schmerz nicht einmal atmen kann, geschweige denn ein Geräusch von mir geben. Für einen Moment spüre ich klar und deutlich nur Leere - selbst mein Herzschlag und mein Blutrauschen ist verstummt. Aber dieses Mal rappel ich mich auf. Wie ein Kämpfer, der doch weiß, dass er nichts anrichten kann. Winselnd sieht mir der Werwolf zu, wie ich mich selber anfange zu kratzen und um mich wüte. Die Nacht ist fast vorbei und mein echtes Ich ist erschöpft. Ohne nach zu denken breite ich drohend meine Flügel aus und verschmelze mit der Nacht. 

Ich wache auf dem höchsten Turm von Hogwarts auf ~Wie zum verdammten Geist bin ich hierher gekommen?!~ - Ich habe keine Ahnung...- "Meine Fresse!", schreie ich laut, doch meine Stimme bricht sofort wieder ab. Meine Stimmbänder sind austrocknet, ich habe des Gefühl, ich hätte eine Sahara in meiner Mundhöhle, alles tut mir weh. Schwindel erfasst mich und aus den letzten Kräften hebe ich meinen Arm, um meinen Kopf abzustützen. Er ist zu schwer. Ich kann nicht mehr... Blinzelnd wird mir klar, dass mein ganzer Arm voller getrocknetem Blut ist. Unbemerkt fließen Tränen meine Wangen hinab, waschen den Dreck und das Blut von meinem Gesicht. Zitternd lasse ich meinen Blick meine Hüfte und meine Beine hinabwandern. Alles zerkratzt, bedeckt, mit einer Mischung aus Dreck, Staub und Blut. So langsam realisiere ich, wie schwer ich verletzt bin. Was ist bloß passiert? Plötzlich strömt mir ein intensiver Geruch in die Nase. Den kenne ich doch irgendwo her... ich schnupper, und dann fällt es mir wieder ein. Remus! Der Werwolf! Warte, der Werwolf? Mit zusammengekniffenen Augen versuche ich mich an die schwere Nacht zu erinnern. Die schnellen Muskelkontraktionen. Das Spüren von Blut unter meinen Krallen. Der Werwolf... Der Kampf! Oh Gott! Ich hatte einen Kampf! Gegen Remus! Ängstlich presse ich mich gegen die Dachziegel. Nein nein nein nein. Die Schuld zerfrisst mich von innen, lässt mich aufschluchzen und meine Schläfen halten. Was habe ich bloß gemacht?! Panik überschwemmt mich. Geht es Remus gut? Was ist... Der Gedanke bleibt un-ausgedacht in meinem Kopf hängen. Bevor ich was machen kann, sinke ich zusammen. Eine Schwärze überschwemmt mich...

Blinzelnd stemme ich mich mit zitternden Armen auf, betrachte irritiert meine Umgebung. Aber die Erinnerungen lassen nicht lange auf sich warten und hämmern schnell von innen gegen meinen Schädel. Doch ich habe keine Kraft mehr. Müde blinzel ich und reibe mir die Stirn. Versuche nicht an die Nacht zu denken. Resigniert bemerke ich, dass ich  wohl nicht lange bewusstlos war. Die Sterne sind hell, die Nacht hat noch die Macht über das Leben hier. Plötzlich meldet sich eine Stimme in meinem Kopf wieder -Ähm, wie kommen wir hier runter?- Ich schlucke erleichtert. Verwundert realisiere ich, dass mir mein Unterbewusstsein, dieses kleine Stimmchen in meinem Kopf gefehlt hat. Wäre es ein Lebewesen, hätte ich es jetzt knuddeln, ganz feste drücken können. Gott, ich bin nicht alleine! - Naja, eigentlich scho- ~Halt jetzt bloß die Klappe!~ Ich könnte lachen vor Erleichterung. Mit meinem Unterbewusstsein, kann ich meine Gedanken in den Griff kriegen, sodass sie nicht wieder wie ein Schwarm wild gewordener Wespen in meinem Kopf umhersausen werden. Bildlich kann ich mir vorstellen, wie alle Gedanken an diese Nacht in eine Kiste gepackt werden. Nein, keine Kiste, ein Aquarium. Zufrieden kann ich sie dort betrachten und logisch darüber nachdenken, anstatt in heillose Panik zu verfallen, weil das Chaos in meinem Kopf mir den Rest gibt. 

Erleichtert kauer ich mich hin, als ich mir der Aussicht bewusst werde. ~Oh mein...~ -...Gott! Das ist...- ~...wunderschön!~ Gebannt starre ich auf die aufgehende Sonne und den bezaubernden Himmel. Und genau in diesem Moment vergesse ich zum ersten Mal alles. Alle meine Sorgen, Probleme. Ich vergesse sogar, wer ich bin. Es gibt einfach nur den Moment des Friedens, den Moment der Stille. Ich habe das Gefühl, ich wäre erleuchtet worden. Nach dem Sonnenaufgang stehe ich paralysiert auf. Eine Sekunde später bereue ich es, denn während des Aufgangs bin ich näher an die Dachkante gerutscht. Und genau in diesem Moment rutsche ich ab. Ein kurzes Arm-Wedeln und ich falle. ~-NEIN!-~ rufen ich und mein Unterbewusstsein gleichzeitig. Aber bevor ich besonders tief fallen konnte, durchläuft mich ein Schauer und ein heftiger Ruck. Ich habe mich verwandelt. Oder eher gesagt: ich habe unbewusst meinen Rücken verwandelt. Noch unter Schock stehend übergreifen meine Instinkte und unter Ächzen breite ich meine Fledermaus-ähnlichen Flügel aus. Es zieht hart, als sich der Innenraum mit Luft füllt, und ich habe das Gefühl, als ob die Luft, die mir entgegenkommt, die Luft aus meinen Lungen presst. Mit einem sehr schmerzhaften Ruck bleibe ich mitten in der Luft stehen.  In der nächsten Sekunde knicken meine Flügel ein und ich segele weiter nach unten. Dieses mal ist es jedoch um einiges langsamer. 

Am Boden blinzle ich. ~Was war dass...~ -Oh. Mein. Gott. Wir können fliegen! Wir sind gerade freacking geflogen! Oh Gott!- Wackelig komme ich auf meine Beine, auch spüre ich, wie die Flügel in sich zusammenklappen, schrumpfen und in meinem Rücken verschwinden. Durch einen Schleier bemerke ich, wie meine Wunden anfangen zu bluten, die Luft und der Sturzflug haben ihnen nicht gut getan.  Ich setzte mich an die Mauer des Astronomieturms. Zitternd schlinge ich meine Arme um meine Knie und wiege vor und zurück. Nach einiger Zeit denke ich wieder. Meine Gedanken rasen, und was mir auffällt ist, dass ich jetzt weiß, wie ich auf den Astronomieturm gekommen bin. Ich bin geflogen! Also muss ich fliegen können. Daraus resultiert aber, dass ich als mein bewusstes Ich lernen muss, wie man richtig fliegt. Das ich mich sogar bewusst verwandeln kann! 

Und zum ersten Mal denke ich, dass dieser verdammte Fluch nicht nur ein verdammter Fluch ist. Zum ersten Mal seit meinem elften Geburtstag habe ich mein inneres Monster ein klitze-kleines Stückchen akzeptiert.


Endlich fängt es an...

Saphira Hills - Schwingen der FinsternisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt