In letzter Sekunde

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Joslyn Watson drehte den Griff des Regenschirms zwischen den Fingen und ließ den Schirm rotieren. Das darauf tropfende Wasser spritzte in alle Richtungen und ging in dem Regenguss unter, der die Erde heim suchte. Der große, schwarze Schirm, zwischen den vielen anderen, erschuf um Joslyn herum einen kleinen Fleck Trockenheit, der jedoch nicht viel brachte. Das lange, schwarze Haar mit den gefärbten, violetten Strähnen, klebte ihr am Kopf und im Nacken. Ihr langer Mantel, bei dem sie sich nicht die Mühe gemacht hatte, ihn zu schließen, flatterte im kalten Wind, der ihr eisige Regentropfen ins Gesicht schlug. Ihre All Stars waren komplett vom nassen Gras, in dem sie stand, durchnässt. Mit tauben Fingern wischte Joslyn sich über das Gesicht, ohne es wirklich zu spüren. Als sie die Hand sinken ließ, waren ihre Fingerspitzen schwarz. Ihr Augen-Make-Up war komplett verschmiert, doch weder sie noch einer der anderen Leute um sie herum, kümmerte sich darum. Sie alle starten auf den großen Marmorstein  vor ihnen. Ein Grabstein, der auf einem frisch ausgehobenen Grab stand. Ein Grabstein mit dem Namen Emily Watson. 
Dem Namen ihrer Mutter.      
Geboren am 18. Februar 1958, gestorben am 30. August 1993 
Das einzige, was sie der Nachwelt hinterlassen hatte, war ihre Kunst und ihre einzige Tochter. Neben einem großen Berg an Schulden. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Scheißkerle an ihre Tür klopfen würden, um das Geld von ihr zu verlangen. Bis dahin musste Joslyn weg sein. Sie sollte ihre Sachen packen und verschwinden. Doch ihre Füße bewegten sich keinen Millimeter. Sie konnte sich nicht abwenden, sondern nur auf den Grabstein starren. Während die anderen Trauergäste sich leise unterhielten und die Versammlung sich auflöste, bewegte Joslyn sich nicht. 
Vor einer knappen Woche hatte sie einen Anruf von der Polizei bekommen. Sie sollte eine Leiche identifizieren. Mehr hatte es nicht gebraucht! Joslyn hatte gewusst, was passiert war und dass sich ihr Leben nun von Grund auf an ändern würde.
Die Männer, denen Emily Watson das Geld schuldete, waren keine freundlichen Gesellen und offenbar hatten sie nicht mehr auf ihr Geld warten wollen und ein Exempel statuiert. 
Um es abzukürzen, es gab keinen offenen Sargdeckel!         
Erneut wischte Joslyn sich über die kalten Wangen, bevor sie sich endlich dazu durchringen konnte, sich umzudrehen und den Friedhof mit langsamen Schritten zu verlassen. An dem Friedhofstor aus Gusseisen blieb sie jedoch noch einmal stehen und sah zum Kirchturm hoch. In wenigen Stunden war sie endlich 18 und dann hielt sie nichts mehr hier. Sie konnte gehen, wohin sie wollte. Und das würde sie auch. Sie musste nur noch ein paar Stunden durch halten. Dann würde sie nach Paris fliegen und studieren. Das Geld dafür hatte sie sich zusammengearbeitet und sie würde es auf keinen Fall hergeben. Das war ihr Freifahrtschein in ein neues Leben.
Langsam legte Joslyn den Kopf in den Nacken und sah blinzelnd zum Himmel hoch. Regen, aus düsteren Wolken fallend, benetzte ihr Gesicht. Ein vorbeirasendes Auto fuhr durch die Pfützen am Straßenrand und das Wasser spritzte ihr in einer riesigen Fontäne frontal gegen den Körper. Ihre Lippen pressten sich zu einem dünnen Strich zusammen und sie sah an sich hinab. Ihre Kleidung triefte vor Nässe und Dreck. Leise fluchend sah sie dem schwarzen SUV hinterher. Plötzlich quietschten dessen Reifen und er wendete. Joslyns Augen weiteten sich vor Schreck. Ihr Regenschirm fiel zu Boden, als sie herum wirbelte und davonrannte. Sie rannte so schnell sie konnte. Ihre Füße schlitterten und rutschten über den nassen Asphalt. Hinter sich hörte sie den Wagen stoppen, die Türen flogen auf und die Männer nahmen die Verfolgung auf. 
"Gottverdammte Scheiße!" fluchte Joslyn atemlos und beschleunigte ihr Tempo noch. Mit fliegenden Füßen sprang sie die Treppen in die U-Bahnstation hinab, ihre Verfolger dicht auf den Fersen. Keuchend sah sie über die Schulter zurück. Das hätte sie lieber nicht tun sollen. Sie verfehlte einer der Stufen, ihr Fuß rutschte ab und sie stürzte. Mit einem erschrockenen Schrei sah Joslyn den Boden auf sich zu kommen, ein rasender Schmerz schoss durch ihren Körper und ihre Welt versank in Dunkelheit. 

Wasser platschte ihr ins Gesicht und Joslyn schreckte aus der Dunkelheit auf. Verwirrt begann sie zu blinzeln und versuchte, ihre verschwommene Sicht zu klären. Sie saß auf einem harten Klappstuhl, die Hände an den Seiten des Stuhls gefesselt. Ihre Beine waren ebenfalls an die Stuhlbeine gebunden. Die Kabelbinder schnitten ihr in die Haut. 
Verdammt!
"Hallöchen Joslyn!" 
Mit einer schnellen Bewegung schleuderte Joslyn sich die Haare aus dem Gesicht, sodass das Wasser nur so spritzte. Ein kalter, hämischer Ausdruck legte sich über ihre Gesichtszüge, während sie in Gedanken schon versuchte, einen Fluchtplan zu entwerfen. Vor ihr kniete Little Tom, der Sohn des Drogenbarons, dem ihre Mutter Geld geschuldet hatte. Big Tom ließ sich nicht oft zu Bestrafungen hinreißen. Ihre Mutter war da eine Ausnahme gewesen. Nach dem Bericht der Mordkommission hatte dieser Hurenbock sie gefoltert, vergewaltigt und getötet. Offenbar hatte Little Tom etwas ähnliches jetzt mit ihr vor, wenn sie nicht zahlte und das hatte sie eindeutig nicht vor. Das Geld war weg, nicht für sie erreichbar. Also entweder starb sie heute auf die nur erdenklich schmerzhafteste Weise oder ihr brillanter Kopf entwarf einen Fluchtplan. 
"Du und deine Mutter haben uns ziemlich Probleme bereitet." Er streichelte ihr fast schon liebevoll mit den Fingerspitzen über die Schläfen. Ihre Zähne knirschen aufeinander. 
Little Tom war das, was sich eine Frau von einem Mann nur wünschen konnte. Wenigstens äußerlich. Groß, muskulös und einfach nur männlich. Tattoos bedeckten fast komplett die eine Seite seines Körpers inklusiv seines Gesichts. Wenn seine Persönlichkeit nicht so verrottet wäre, hätte sie ihn vielleicht wirklich mögen können, doch Little Tom war ein sadistischer, blutrünstiger Scheißkerl, der sich nur für sich selbst interessierte. Er kam ganz bestimmt nicht in Frage.                               
"Irgendwie muss man euch Schwanzlutscher ja beschäftigen." höhnte Joslyn und steckte einen heftigen Schlag mit dem Handrücken ein. Der Schlag schleuderte sie zur Seite, sodass sie samt Stuhl umkippte und auf dem harten Betonboden aufschlug. Sie zischte vor Schmerz durch die zusammen gebissenen Zähne, aber nachgeben und sich unterwerfen war noch nie ihre Stärke gewesen. Ihre Mutter hatte immer den Kopf geschüttelt und gesagt, dass das einmal ihr Ende sein würde und wahrscheinlich hatte sie sogar recht. 
Ihr großes Mundwerk und unbeugsamer Wille würden ihr ihr eigenes Grab schaufeln.
Mit einem gespielt mitfühlenden Seufzer stellte Little Tom sie wieder auf und wischte ihr das Blut ihrer aufgeplatzten Lippe aus dem Mundwinkel. 
"Es ist eine Schande ein solch perfektes Gesicht zu schlagen!" seufzte er und strich ihr mit seinen blutverschmierten Fingern über die Wangen. Viele behaupteten von ihrem Gesicht, dass es perfekt sei. Große Augen mit langen, dichten Wimpern, eine perfekte Nase, scharf gezogene Augenbrauen, hohe Wangenknochen und ein Paar praller Lippen. 
"Man kann nicht alles haben!" spottete sie mit einem schief gehobenen Mundwinkel. Little Tom packte ihren Kiefer und hob ihr Gesicht an, sodass sie ihm direkt in die Augen sehen musste. 
"Es wird mir ein Vergnügen sein, deinen Willen zu brechen, kleines Kätzchen." 
"Bin gespannt, was du dir einfallen lässt, Little Tom, aber sei gewarnt. Ich habe schon mit deinem Daddy zu tun gehabt." 
Little Toms Kiefer zuckte und sein Griff wurde fester. Seine Finger gruben sich tief in ihr Fleisch und hinterließen dunkle Flecken auf ihrer porzellanartigen Haut. Er hasste es, wenn man ihm unter die Nase rieb, dass er nur die Nummer zwei war. 
"Ich werde dich leiden lassen, kleines Kätzchen." Dann presste er seinen Mund auf ihren. Gewaltsam zwang er ihre Lippen auseinander und rammte ihr die Zunge in die Mundhöhle. Joslyns Finger krallten sich in die Armlehnen, ihre Augen begannen zu tränen. Sie bekam keine Luft. 
Er löste sich mit einem widerlich schmatzenden Geräusch von ihr und Joslyn riss hustend und keuchend den Kopf herum. Speichel und Blut tropften ihr von den Lippen auf den Arm, während sie den Geschmack seiner Zunge aus ihrem Mund würgte. 
Little Tom sah angeekelt auf sie hinab, bevor er sich abwandte. Es war an der Zeit für ein paar stärkere Methoden. Er würde aus diesem widerspenstigen Miststück ein Kunstwerk aus Schmerz und Leid zaubern. 
Durch einen Schleier aus Tränen sah Joslyn Littel Tom gehen. Er würde gleich mit seinen Lieblingsfolterinstrumenten zurück kommen, ihr blieben nur Minuten. Sie begann an ihrer Hand zu zerren, die mit Blut und Speichel bedeckt war. Das Plastik schnitt ihr in die Haut, noch mehr Blut lief ihr über die Finger und dann gab es einen heftigen Ruck und ihre Hand war frei. Ein Funken Hoffnung schoss durch ihre Adern.
Sie konnte es schaffen! Sie musste es schaffen! Sie wollte noch nicht sterben! 
Eilig und so ruhig wie nur möglich öffnete sie die anderen Kabelbinder und sprang auf. Ihr Gesicht schmerzte wie die Hölle. Unwirsch wischte sie sich über die Wange und sah sich um. Keine Türen, bis auf die durch die Little Tom verschwunden war. 
Verdammt!
Ihr Blick wanderte zur Decke. In der hinteren Ecke gab es einen Lüftungsschacht. Eng, aber machbar. Immerhin war sie ziemlich lang im Leichtathletik. Mit einer schnellen Bewegung kickte sie den Stuhl unter den Schacht und rammte ihren Fuß in das Gitter. Es krachte ziemlich laut. Sie schnalzte mit der Zunge und zwängte sich in den Schacht. Sie war gerade mal einen knappen Meter weit gekommen, da hörte sie einen Fluch und dann das Gebrüll von Little Tom. Ihre Bewegungen wurden schneller. Sie würde sich nicht erwischen lassen und schon gar nicht von diesem Arsch. Die Luft wurde dicker und ein sanfter Nebel bildete sich in dem Tunnel. 
Gas! 
Joslyn drückte sich ihr Shirt vor die Nase und verpasste dem nächsten Gitter einen Tritt, bevor sie aus dem Lüftungssystem heraus sprang und in einem leeren Flur landete. Hier gab es überall Kameras, sie musste sich beeilen. Wie ein Fiesel flitzte sie durch die Gänge, die alle gleich aussahen. Sie hatte keine Ahnung wo sie hin rannte, ihr Orientierungssinn war irgendwo auf der Strecke liegen geblieben. Schritte zu ihrer Rechten, Rufe hinter ihr, das Geräusch von Pistolen, die geladen wurden vor ihr. Sie machte einen schnellen Sprung zur Seite nach links. Sie musste sich aus der Gefahrenzone ziehen. Allerdings hatte sie das nagende Gefühl, dass sie diesmal den Kopf nicht rechtzeitig aus der Schlinge ziehen konnte. Dazu brauchte sie ein Wunder und das hatte es bei ihr noch nie gegeben. Je lauter die Geräusche ihrer Verfolger wurden, umso schneller hetzte sie durch die Flure. Langsam ging ihr die Puste aus, ihre Seite schmerzte höllisch. Die ersten Schüsse fielen hinter ihr und sie zog instinktiv den Kopf ein. Eine Kugel streifte ihre Schulter, eine andere ihre Wade. Der brennende Schmerz ließ sie taumeln und an Schnelligkeit verlieren. Das Geräusch eines Schlags ertönte hinter ihr. 
"Ich will sie unverletzt und lebend! Niemand rührt sie an, außer mir!" brüllte Little Tom durch die Gänge und Joslyn wurde schlecht. Was Little Tom mit ihr anstellen würde, wenn er sie erwischte... 
Fast hätte sie sich auf der Stelle übergeben. Ein weiterer Schuss ertönte und sie wusste augenblicklich, dass dieser Schuss von Little Tom kam. Das Geschoss verfehlte nicht sein Ziel. Die Kugel bohrte sie von hinten in ihre Kniekehle, zerfetzte Muskeln und Sehnen und kam vorne wieder heraus. Ihre Knochen und die Kniescheibe brachen. Joslyn stieß einen jaulenden Schrei aus, ihr Bein gab nach und sie stürzte zu Boden. Keuchend umklammerte sie ihr Bein, Tränen rollten ihr über die Wangen, trotzdem war sie nicht gewillt aufzugeben. Sie begann rückwärts zu krabbeln, robbte über den kalten Boden und hinterließ dunkle Blutspuren. Ihr panischer Blick zuckte zu den Männern, die jetzt eindeutig ohne Eile auf sie zu kamen, Little Tom ganz vorne, ein ekelerregendes Grinsen auf den Lippen. Ihr Rücken traf auf eine kalte Betonwand. 
Hier war Endstation!
Sie hatte es nicht geschafft!           
Sie würde wohl sterben! 
Joslyn atmete tief durch, schniefte einmal und riss sich zusammen. Obwohl sie am Boden lag, blutend und heulend, eindeutig als Verlierer, würde sie es diesen Wichsern eindeutig nicht leicht machen. Ihr Gesicht nahm einen harten Zug an, in ihren Augen blitzte es gefährlich. Dann verzogen sich ihre Lippen zu etwas, was man mit viel Fantasie ein Lächeln nennen konnte, trotz der Schmerzen und der Kälte des Todes, die sich bereits langsam um sie wickelte. 
"Immer noch so stur!" lächelte Little Tom und ging vor ihr in die Knie. "Na ja", er packte ihr zerschmettertes Knie und drückte zu. Joslyn jaulte auf und versuchte sich aus seinem Griff zu winden, während er ihre Schmerzen genoss. "Ich habe nichts anderes erwartet." Genüsslich bohrt er mit seinen Fingern in dem Loch, das die Kugel in ihrem Bein hinterlassen hatte.  
Plötzlich erstarrte Joslyns Körper zu Stein. Der Schrei blieb ihr im Hals stecken. Etwas... stimmte nicht! Ihre Haut wurde eiskalt, Hitze raste durch ihre Adern, ihr Blut begann zu brodeln. Ein unbeschreiblicher Druck baute sich in ihrem Kopf auf, als würde ihr Schädel gleich platzen. Doch obwohl sich ihr Körper plötzlich so eigenartig aufführte, empfand sie keine Panik, keine Angst.
"Hey!" Little Toms Stimme drang wie durch einen dichten Nebel zu ihr durch. Sie konnte sich nicht auf sein Gesicht fokussieren, als stünde sie unter Drogen. Seine Finger kamen auf ihr Gesicht zu und der einzige Gedanke, der sich in ihrem Kopf formte war, dass sie nicht von ihm angefasst werden wollte. Eine explosionsartige Druckwelle riss alle Umstehenden von den Füßen und schleuderte sie zurück. Little Tom wurde mit solch einer Wucht gegen die gegenüberliegende Wand katapultiert, dass ihm sämtliche Knochen gebrochen wurden. 
Panik brach aus.              
Joslyn konnte sich immer noch nicht bewegen. Ihr Bein war nutzlos und der Schmerz war nicht verschwunden. Während die Männer panisch umher rannten und schrien, war sie das ruhige Auge des Sturms. Langsam hob sie die Hände vor das Gesicht, um sie betrachten zu können. Ein weißblaues Licht umgab ihre Haut wie einen Schleier. 
"Tötet sie!" kreischte jemand und sie sah auf. Die Männer hatten sich wieder einigermaßen gesammelt und richteten ihre Waffen auf sie. Diese Angst in ihren Gesichtern war... erfrischend. Normalerweise lag Joslyn am Boden, wurde getreten und hatte mit ihrer Panik zu kämpfen. Das Blatt hatte sich gewendet. Aber trotzdem sollte sie lieber abhauen. Obwohl das mit ihrem Bein immer noch ein großes Problem darstellte. 
Sie musste hier weg! 
Ihre Hände klatschten nutzlos auf den Boden. Egal wie sehr sie es auch wollte, sie würde es nicht schaffen. So hatte sie sich ihren Geburtstag wirklich nicht vorgestellt. 
Joslyn hatte kaum Gelegenheit den Gedanke zu Ende zu denken. 
Der Boden unter ihr gab nach. 
Und sie fiel. 

Times Die Macht der MagieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt