Ein Besucher

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"Ich soll was tun?" Joslyn starrte erst den schnittigen Besen in ihren Händen und dann McGonagall an. 
"Sie sollen überprüfen, ob er verhext wurde." erklärte McGonagall geduldig, während die Bibliothekarin den Besen weiterhin nur ratlos anstarrte. 
"Ihnen ist bewusst, dass ich keine Hexe bin?" fragte Joslyn vorsichtig nach und erntete einen schneidenden Blick. 
"Das ist mir sehr wohl bewusst. Dadurch haben Sie die Möglichkeit vielleicht etwas zu finden, was uns entgangen ist." 
"Klingt einleuchtend." Mit einem leidgeprüften Seufzer öffnete Joslyn die Hände und der Besen erhob sich wenige Zentimeter in die Luft. In den letzten Tagen hat sie fleißig gelernt und geübt, bis sie das Grundprinzip ihrer Fähigkeiten ganz verstanden hat. Es war ein Teil von ihr, wie ein Gliedmaß. Allerdings hatte die lange Ruhephase es eingeschläfert. Jetzt musste diese Kraft wieder geweckt werden. Ein langer, unangenehmer Prozess, der sich anfühlte, als würde ein eingeschlafenes Bein wieder langsam bewegt werden. Zu Beginn der Nutzung ihrer Fähigkeiten hat ihr ganzer Körper gekribbelt, wie tausend Ameisen. Mittlerweile hatte es nachgelassen. Die Seifenblase auf dem Quidditchfeld war zuerst einfach, aber als sie sie vergrößert hatte, hatte es sich angefühlt, als wäre sie in einen Ameisenhaufen gefallen. Jetzt war es nur noch ein zärtliches Kitzeln, das sie problemlos ignorieren konnte, während sie den Besen prüfte. Der Holzstab drehte sich langsam und das polierte Holz glänzte im sanften Licht. Mit halb geschlossenen Augen streichelte Joslyn mit ihren mentalen Fingern über die Weidenzweige und den hübschen Stiel. Dann sank das Holz zurück in ihre Handflächen und Joslyn richtete ihre katzenhaft geschminkten Augen auf ihre Freundin. 
"Der Besen ist in tadellosem Zustand." erklärte sie ruhig und überreichte ihn McGonagall. Ein Ausdruck von Erleichterung zuckte über die strengen Züge der Lehrerin. 
"Der Besen gehört Harry, nicht wahr?"
"Damit wird er das nächste Quidditch-Spiel gewinnen." 
Joslyn schnaubte amüsiert und McGonagall schenkte ihr ein eisiges Lächeln. 
"Das wird ein großartiges Spiel." 
"Sie können mir danach alles ganz genau berichten." 
McGonagall stutze. 
"Sie werden nicht da sein?" 
"Nein, ich habe etwas zu erledigen." Joslyn durchquerte das Büro, das sie sich mit Madam Pince teilte und zog sich eine dunkelblaue Jeansjacke über. Anstatt dem Umhang trug sie Jeans und T-Shirt, aber bei der Schuhauswahl hatte sie einfach nicht widerstehen können. Sie hatte sich für ein Paar turmhohe Heels entschieden mit silbernen Schnallen und spitzen Nieten am Absatz. Die Schnürung diente nur zur Zierde, genauso wie die Reißverschlüsse. 
McGonagall betrachtete das Schuhwerk kritisch und erntete dafür ein schiefes Grinsen. 
"Wohin gehen Sie?" 
"Jemanden besuchen." Joslyn zwinkerte und huschte überraschend leichtfüßig aus der Tür. McGonagall schüttelte langsam den Kopf. 
"Verrücktes Mädchen!"
"Sie mögen mich trotzdem." schallte es zurück und McGonagall lächelte leicht. 
"Ich weiß!" 

Joslyn hatte Mühe ganz ruhig zu bleibe. Sie beobachtete, wie der Dementor den Schlüssel im Schloss drehte und die Zellentür für sie öffnete. Mit einem zischenden Laut gab er widerwillig den Weg frei und Joslyn grinste ihn an, wobei sie der verhüllten Kreatur alle Zähne zeigte. 
"Danke!" trällerte sie gespielt fröhlich, bevor sie an dem Dementor vorbeirauschte und in einer der vielen Zellen von Askaban verschwand. Mühsam ignorierte sie die qualvollen und grausamen Erinnerungen, die wie Wasserleichen an die Oberfläche ihres Gehirns kamen und darauf umher schwammen. 
In einer Ecke der Zelle, direkt neben der türartigen Öffnung, die ein Weg in den direkten Tod war, kauerte eine zusammengesunkene Gestalt, die sich bei ihrem Eintreffen nicht rührte. Durch die Öffnung drang schwaches Licht, dass davon zeugte, dass der Himmel über dem Zauberergefängnis nie aufklarte. Heute regnete es mal nicht und es zuckten auch keine beängstigende Blitze. Trotzdem war es düster und trostlos. Eine wahre Hölle für die Seele. Joslyn hatte die Trostlosigkeit gesehen, die diesen Ort ausmachte und in ein Paradies für die Dementoren verwandelte. Dieser Ort war wirklich eine Strafe, die es zu fürchten galt. Da überlegte man es sich doch noch einmal, bevor man etwas anstellte. Es sei denn, man war davon überzeugt nicht erwischt zu werden. 
Die Gruppe, zu denen Joslyn sich selbst zählte. 
Gelassen setzte sie sich gegenüber von dem Gefangenen auf den kalten Steinboden. Er sah sie immer noch nicht an und reagierte auch sonst nicht auf ihre Anwesenheit. Also öffnete sie die Hand und spreizte die Finger. Die schützende Seifenblase, die sie mittlerweile problemlos beherrschte, hüllte sie ein und breitete sich auf den Mann vor ihr aus. Dann wartete sie ab. Endlose Minuten verstrichen, dann hob er den Kopf und sah Joslyn aus blutunterlaufenen Augen an, in denen etwas wichtiges fehlte. 
Vielleicht der Lebenswille? Oder einfach jeder Funken Freude...
"Wer sind Sie?" fragte er schließlich mit matter Stimme.
"Mein Name ist Joslyn Watson und ich habe gehofft bei Ihnen vielleicht ein paar Antworten zu bekommen." 
"Ich kenne Sie nicht. Gehen Sie!" Er wandte sich wieder ab. Anstatt seiner Bitte nachzukommen, streckte Joslyn entspannt die Beine aus und lehnte sich an die Mauer. Dann ließ sie ein Bein aus der Zelle baumeln und sah nach draußen. Die Insel war von zerklüfteten Felsen umgeben, die aus eiskaltem Wasser ragten. Wellen brachen an den Felsen und Gischt spritzte in alle Richtungen hoch. 
"Ich fürchte, das kann ich nicht tun, Mr Gellert Grindelwald." Joslyn zuckte bedauernd mit den Schultern und spürte diese leblosen Augen wieder auf sich ruhen. 
"Was wollen Sie von mir, Ms Watson?" 
"Nennen Sie mich Joslyn, Mr Grindelwald und ich würde gerne alles erfahren, was sie über Obscuriale wissen." Joslyn wandte ihm wieder das Gesicht zu und konnte beobachten, wie ein Funken in diese Augen zurückkehre. Langsam richtete Gindelwald sich auf und lehnte sich mit geradem Rücken gegen die Wand hinter sich. 
"Warum wollen Sie etwas über Obscuriale wissen, Joslyn?" 
Jetzt erkannte Joslyn das Genie in den dunklen Augen. Der Mann, der er einst vor langer Zeit war. 
"Weil ich eines bin!" 
Auf diese Aussage folgte langes Schweigen. Grindelwald und Joslyn musterten einander und versuchten zu erraten, was der andere dachte. Keinem von beiden schien es zu gelingen. 
"Obscuriale erreichen nicht das Erwachsenenalter." bemerkte Grindelwald schließlich und Joslyn zog die Mundwinkel humorlos nach oben. 
"Und doch bin ich noch am Leben." war ihr trockener Kommentar. 
"Wie kommen Sie darauf ein Obscurial zu sein?" 
"Professor Dumbledore ist zu dieser Schlussfolgerung gekommen und sie scheint, abgesehen vom Alter und der unbezwingbaren Zerstörung vernünftig."
"Albus?" Echte Überraschung sprach aus seiner Stimme und seinem Gesicht. "Hat er Sie zu mir geschickt?" 
Joslyn schüttelte den Kopf, bevor sie ihn nach hinten gegen die Wand sinken ließ. 
"Nein! Wir wissen beide, dass er nie erfahren hat, dass Sie sich so umfassend mit Obscurialen befasst haben."
"Ich wollte ihm helfen. Ihm und seiner Schwester." Sein Blick richtete sich in die Vergangenheit. "Aber ich habe nur alles schlimmer gemacht."
"War Ariana Dumbledore ein Obscurial?" 
Grindelwald nickte. 
"Eines der ältesten, denen ich begegnet bin. Doch ihre Psyche war zu labil, um noch viel länger durchzuhalten." 
"Verstehe!" 
Wieder schwiegen sie einige Zeit lang und Joslyn drehte das Gesicht wieder der Außenwelt zu. 
"Was erhoffen Sie sich hier?" seufzte Grindelwald schließlich und Joslyn stieß lange und geräuschvoll die Luft aus. 
"Vielleicht eine Erklärung, warum Dumbledore mich immer so seltsam ansieht, wenn er glaubt, dass ich abgelenkt bin. Als ob er etwas von mir erwarten würde, auf etwas warten würde." Ruckartig drehte sie den Kopf und sah Grindelwald wieder an. Mit diesen leuchtenden Augen, denen nichts zu entgehen schien. 
"Sie sind sein bester Freund, wenn jemand wissen könnte, was er verbirgt, dann Sie." 
Gindelwald lachte leise. Der Laut klang eingerostet und rau, als wäre er schon sehr lange nicht mehr benutzt worden. 
"Ich fürchte, Sie haben da etwas missverstanden, Joslyn. Albus und ich..."
"Doch!" unterbricht Joslyn ihn gelassen. "Ich weiß, was Sie vor all den Jahren angezettelt haben auch was Sie getan haben. Doch Dumbledore hat Sie nie auch nur eine Sekunde für verloren geglaubt. Er kommt immer noch her und auch wenn Sie ihn nicht sehen wollen, vielleicht aus Scham oder Selbsthass, bleibt er immer vor Ihrer Zelle stehen und hofft, dass Sie ihn herein beten."
"Sie wissen mehr, als gut für Sie ist, Joslyn." Grindelwalds Stimme schepperte leicht und in seinen Augen schimmerten Gefühle, die er wahrscheinlich schon sehr lange nicht mehr gefühlt hatte. 
Joslyn lachte leise auf und zog die Knie an die Brust. 
"Einst hing mein Leben von dem Beschaffen von Informationen ab." 
Sie sahen einander an. Keiner blinzelte oder sah weg. 
"Es gibt eine Prophezeiung", beginnt Gindelwald schließlich leise. "Sie handelt von einem Obscurial, das unser führendes Licht in der dunkelsten Zeit sein wird. Aber niemand hat diese Prophezeiung je ganz gehört. Das können nur diejenige von der sie handelt." 
Joslyn runzelte leicht die Stirn und legte die Unterarme auf die Knie.
"Wo kann ich diese Prophezeiung finden?"
"Es gibt einen Raum im Ministerium in London. Dort werden alle Prophezeiungen aufbewahrt, die je ausgesprochen wurden. Allerdings können sie nur von denen geholt und gehört werden, von denen sie handelt." 
"Das heißt", Joslyn kniff leicht die Augen zusammen. "sollte ich dieses Obscurial nicht sein, kann ich sie auch nicht finden!" 
"Exakt!" Grindelwald beobachtete, wie sie sich leicht über den Nasenrücken rieb und nachdachte. Seine Augen tasteten jeden Millimeter dieses Gesichts ab. Die vollen Lippen, das spitze Kinn kombiniert mit hohen Wangenknochen. Dazu riesige Augen, umrahmt von ellenlangen Wimpern. Der spitze Haaransatz teilte ihre Haare in zwei unterschiedlich große Hälften und die Locken fielen ihr über die eine Gesichtshälfte. Schwarz und Violett vereinten sich zu einer dichten Mähne.    
"Ihr Name ist Watson?"
Sie gab einen zustimmenden Laut von sich und ihr Finger wanderte von ihrer Nase zu ihrem Kinn. 
"War der Name Ihrer Mutter auch Watson?" 
"Emily Watson, Ja." Der Schleier der Nachdenklichkeit löste sich auf und er befand sich direkt im Visier ihres schneidenden Blicks. "Wieso?"
"Wie geht es ihr?" fragte Grindelwald anstatt zu antworten. Der Blick wurde brennend, doch sie schwieg nicht lange. 
"Sie ist tot!" Abgehakte, brutal ausgestoßene Worte. Grindelwald zuckte heftig zusammen, was Joslyn nicht entging. 
"Kannten Sie sie?" 
Schweigend lieferten die beiden sich wieder ein Blickduell, bei dem keiner zu gewinnen schien. 
"Geh jetzt. Du solltest nicht länger hier sein." Grindelwald rappelte sich hoch und ging zur Zellentür. Kräftig schlug er gegen das Gitter und kurz darauf öffnete sie ein Dementor. Joslyn erhob sich mit der Eleganz einer Tänzerin und befolgte überraschenderweise den Befehl. Das Gitter fiel scheppernd hinter ihr zu, doch sie drehte sich noch einmal zu Grindelwald herum, der wieder zu der Öffnung schlurfte. 
"Ich komme wieder!" versprach sie, dann schloss sie langsam die Hand und das schützende Schild löste sich von Grindelwald, während sie es um sich selbst schlang, wie einen Mantel. Ohne einen Blick zurück zu werfen, strebte sie mit hoch erhobenem Kopf auf den Ausgang zu, der Dementor folgte ihr wie ein alptraumhafter Schatten. 

Grindelwald beobachtete von seiner Zelle aus, wie das Boot, das Joslyn zur Insel genommen hatte, ablegte und seine wertvolle Fracht von diesem grauenhaften Ort weg brachte. 
"Joslyn Alba Watson!" murmelte Grindelwald leise und rieb mit den Fingerspitzen über seine Brust. Zum ersten Mal seit langer Zeit spürte er wieder einen kräftigen Herzschlag unter seiner Haut. Trauer und Freude zugleich erblühten in seinem Innern. Rasch schluckte er beides hinunter, bevor es ihm genommen werden konnte und beobachtete weiterhin das Schiff, bis es am Horizont verschwand. Langsam hob er einen Stein auf und trat an eine Stelle der Wand heran, die immer im Dunkeln lag. Nur mit den Fingerspitzen konnte er die Linien ertasten, die er in den Stein geritzt hatte. Linien, die Namen miteinander verbanden. Mit den Fingern ertastete den letzten Namen und ritzte blind mit dem Stein eine weitere Spur, an deren Ende er einen neuen Namen setzte. 
Joslyn Alba Watson-Grindelwald   

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