Die Venus

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Joslyn erlag einer alten, schlechten Gewohnheit. Sie nagte an ihrer Nagelhaut, bis sie blutete. Die Worte der Prophezeiung gingen ihr immer wieder durch den Kopf. Sie kannte alles auswendig. Jedes Wort, jede Zeile. Sie verstand es und dann doch wieder nicht. Die meisten Prophezeiungen, die ausgesprochen wurden, waren Blödsinn. Doch irgendwie wusste sie, dass diese Prophezeiung kein Humbug war. Der große Kopf von Mitternachtfeder ruhte auf ihrem Schoß und sie strich gedankenverloren durch die wundervoll weichen Federn. 
"Deine Prophezeiung ist scheiße!" erklärte sie gelassen und die Erscheinung von Merope zuckte leicht zusammen. 
"Woher weißt du, dass die Vorhersage von mir stammt?" 
"Die Initialen, die auf den Plaketten stehen, die unter den Prophezeiungen befestigt sind. M. G." 
"Klever!" 
Joslyn wackelte ein wenig mit den Augenbrauen und sah wieder auf das Stück Pergament hinab, dass sie auf Mitternachtfeders Kopf abgelegt hatte. Darauf hatte sie die Worte der Prophezeiung nieder gekritzelt. Jeder Satz, jeder Vers wurde kommentiert. Die rote Tinte hob sich von der schwarzen ab. Die hatte das ganze Ding auseinander genommen, verdreht, wieder zusammengesetzt und kannte das gesamte Ding mittlerweile auswendig. 
"Wie kam es zu der Prophezeiung?" Vorsichtig wand Joslyn sich unter Mitternachtfeder hervor und stand auf. Das weiche Moos unter ihren nackten Füßen fühlte sich gut an. Durch die Bäume erkannte sie die Lichter von Hogwarts. Sie hatte sich in den Verbotenen Wald zurückgezogen. Das machte sie in letzter Zeit ziemlich oft. Seit das nächste Schuljahr begonnen hatte und die Welt ein klein wenig finsterer geworden war. Die Wiederauferstehung Voldemorts ließ sich nicht länger verleugnen und nun hatte eine Angst von der Bevölkerung der Zauberer Besitz ergriffen, die vor 16 Jahren eine Atempause bekommen hatte. 
"Kurz nach seiner Geburt. Als ich ihn im Arm halten konnte. Da kam es über mich."
"Du hast wohl gespürt, dass er eines Tages der Dunkelheit verfallen wird." Joslyn sah zu ihren Schuhen hinüber, die an einem Baumstamm lehnten. Ein weiteres Paar Pumps in einem hübschen Türkis mit Riemchen. 
"Und deshalb braucht er ein Licht." 
"Da liegt das Problem." seufzte Joslyn und drehte sich mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen und mit hängenden Schultern zu Merope um. "Ich bin kein Licht!" 
"Du bist beides. Licht und Dunkelheit sind eins." Merope lachte leicht und betrachtete das Gesicht ihrer Gegenüber. "Schönheit gleich dem Paradies." Neblige Finger glitten über eine violette Locke. "Du bist eine Venus!" 
Joslyn hob eine Augenbraue. 
"Ich dachte, ich wäre ein Obscurial." Es sollte als Scherz gemeint sein, doch Merope antwortete mit Ernst. 
"Nein, ein Obscurial ist ein Kind, das seine magischen Kräfte unterdrückt und schlussendlich von ihnen aufgefressen wird. Eine Venus ist etwas anderes. Der große Merlin war eine Venus und Georgina Gryffindor auch."
"Wer ist Georgina Gryffindor?" 
"Godric Gryffindors Mutter." 
Joslyn nickte langsam und schob die Hände in die Taschen ihrer Röhrenjeans. Dabei klaffte die taillierte Lederjacke auseinander und zeigte mehr von dem geschnürten Kaschmirpullover in derselben Farbe ihrer Schuhe. Sie traute sich gar nicht zu fragen, doch Merope kannte sie mittlerweile ziemlich gut. 
"Ich bin tot, vergiss das nicht. Im Tod lernt man noch mehr Leute kennen, als im wirklichen Leben." 
"Wow, jetzt hab ich noch weniger Lust zu sterben." murmelte Joslyn und rümpfte leicht die Nase, wie ein Häschen. Merope lachte. 
"Joslyn, Kleines?" 
"Spinne!" Joslyn drehte sich zu der ersten Tochter von Aragog um. Die Spinne kam normalerweise nicht so weit aus dem Wald. Sie blieb zwischen den dichten Bäumen und genoss die Gesellschaft der Pflanzen. 
"Mit wem sprichst du?" 
Demonstrativ hob Joslyn ihre beringte Hand und zeigte der Spinne den Stein der Auferstehung. 
"Merope Gaunt." 
"Nicht deine Mutter?" 
"Meine Mutter ruht in Frieden." 
Die Spinne nickte leicht, während Merope fasziniert zwischen den beiden hin und her sah. 
"Und die liebe Merope hat gesagt, dass du eine Venus bist?" 
Bevor Joslyn antworten konnte, hörte sie einen keuchenden Aufschrei. Alle drei Wesen drehten sich um. Die kleine Morgenstern mit ihrem Haar aus Sternenlicht tauchte zwischen den Bäumen auf, wie eine Erscheinung und so strahlend schön wie der Stern, der sie einst war. Joslyn hörte Merope nach Luft schnappen. Eine berechtigte Reaktion. Immerhin sah sie gerade einen gefallenen Stern. 
"Eine Venus? Joslyn ist eine Venus?" Morgenstern klatschte lachend in die Hände. 
"Was ist eine Venus?" wagte Joslyn schließlich die entscheidene Frage. Morgenstern wirbelte herum und strahlte Joslyn an.   
"Ich bin nicht der erste gefallene Stern." 
Joslyn hatte noch niemanden sowas sagen hören. Und dann auch noch so fröhlich. 
"Ein gefallener Stern?" quietschte Merope, doch wurde nicht beachtet. 
"Die Venus ist gefallen?" will die Spinnen-Lady wissen, doch Morgenstern wedelte mit der Hand ab und ein wenig Sternenstaub rieselte zu Boden. 
"Nicht dieser bekloppe Planet. Die Venus war einst ein gewaltiger Stern. Wunderschön und sie verströmte, im Gegensatz zu allen anderen Sternen, Violettes und Blaues Licht. So strahlend schön." Die Augen, in denen sich ganze Galaxien befanden, wanderten in weite Ferne. Joslyn zweifelte nicht daran, dass Morgenstern diese Venus persönlich gekannt hatte. 
"Dann ist sie gefallen. Und im Gegensatz zu mir ist sie ein Mensch geworden. Sie hat sich verliebt, Kinder bekommen und das war der Beginn der Zauberer." 
Joslyn riss die Augen auf und blinzelte einige Male. Hatte sie gerade den Beginn der Zauberei erfahren. 
Von einem Stern? 
Na das waren ja mal Neuigkeiten. 
"Doch hin und wieder kommt es vor, dass ein direkter Nachfahre der Venus ihre unglaublichen Sternenkräfte benutzen kann und dann wird diese Hexe oder Zauberer zur Venus." Morgenstern klatschte vor Begeisterung in die Hände. Joslyn schnalzte leicht mit der Zunge. 
"Ich bin also eine Venus und kein Obscurial. Aber die Prophezeiung hat doch von einem Obscurial gesprochen." 
"Eigentlich hat sie das nicht." warf Merope ein und hob den Zeigefinger. "Es war immer nur die Rede von Geboren in der Macht der Venus und Macht dem Tod würdig. Das Obscurial hat sicher irgendjemand einfach dazugedichtet." 
Joslyn fuhr sich mit einem tiefen Seufzer durch die Haare. 
"Erst ein Squib, dann eine Hexe, dann ein Obscurial und jetzt eine Venus."
"Aber immer eine Auserwählte!" trällerte Morgenstern. Joslyn war sich ziemlich sicher, dass Morgenstern Merope sehen konnte und irgendwie gefiel ihr das letzte Kommentar des gefallenen Sterns nicht. 
"Auserwählte?" wiederholte sie leicht verstimmt mit einem zuckenden Wangenknochen. 
"Auserwählt, um zu lieben, wo niemand mehr Liebe sieht." 
"Wie poetisch." schnarrte Spinne und zog sich an einem silbernen Faden in die Bäume hoch. Joslyn rieb sich über die Nasenwurzel. 
"Wie geht's Samantha und Bertold?" beschloss Joslyn einen Themawechsel einzuführen. 
"Sie erwarten ein Fohlen." grinste Morgenstern und ihre Augen leuchteten auf. Manchmal fragte Joslyn sich, wie der Stern es schaffte, nicht verrückt zu werden. All die Jahre und sie musste dabei zusehen, wie alle, die sie kannte, alt wurden und dann schlussendlich starben. Doch der Stern schien für diese Moment noch zu existieren. Das Wunder der Geburt war etwas, das sie zu lieben schien. Von dem sie nie genug bekommen konnte. Selbst wenn sie es unzählige Male gesehen hatte. 
"Übermittle meine Glückwünsche."
Morgenstern strahlte kurz hell auf, wie ein Leuchtturm, dann huschte sie zurück zwischen die Bäume, um den Auftrag auszuführen und die Glückwünsche zu überbringen. Spinne verschwand zwischen den Ästen und Joslyn blieb wieder allein zurück. Mit einem tiefen Seufzer sah sie zu Mitternachtfeder. Der Hippogreif schlief tief und fest. Also hob Joslyn ihre Schuhe auf und schlenderte zwischen den Bäumen davon. Am Waldrand entlang laufend betrachtete sie die Sterne, die sie durch das dichte Geäst sehen konnte und versuchte die neuen Informationen zu verarbeiten. 
Doch sie kam nicht weit. Etwas traf sie direkt im Rücken und schleuderte sie mehrer Meter zwischen den Bäumen durch die Luft. Ihr Körper krachte gegen einen der breiteren Bäume und rutschte zu Boden. 
"... Fuck!" flüsterte Joslyn mühsam. Sie konnte kaum noch die Lippen bewegen. Das letzte was sie sah, waren in schwarze Schuhe gehüllte Füße, die gelassen auf die zu schlenderten. 
"Da bist du ja endlich, Liebste des Dunklen!" 

Times Die Macht der MagieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt