"Ihr kommt doch heute Abend, oder?", fragte Mia uns.
"Klar, kommen wir", versprach Elsa ihr.
Ich sah irritiert auf. "Wohin kommen wir?"
"Zum Adventskonzert, du Dussel", erwiderte Mia augenverdrehend.
Das hatte ich total vergessen! Heute Abend war das Adventskonzert der Schule und Mia und Luca würden mit dem Orchester auftreten. Elsa und ich hatten uns schon vor Wochen Karten dafür gekauft.
"Stimmt", sagte ich und schlug mir mit der Hand auf die Stirn.
"Du kannst doch?", fragte Mia mich gekränkt.
"Natürlich kann ich", erwiderte ich. "Fahren wir zusammen?" Mit der Frage wandte ich mich an Elsa.
Elsa nickte. "Meine Mutter hat doch gesagt, dass sie uns fährt. Hast du das etwa auch vergessen?"
Ich nickte peinlich berührt.
"Was ist denn los mit dir, Hanna? Du vergisst doch sonst nie etwas. Hast du etwa Alzheimer?", fragte Luca belustigt. Mia warf ihm einen warnenden Blick zu, doch er bemerkte es nicht.
"Nein", sagte ich. "Aber Tom und ich haben uns getrennt."
"Oh." Mehr sagte Luca nicht, doch ich sah ihm an, wie überrascht er war. Dann rieb er sich nervös den Nacken. "Dann ist es echt dumm von mir gewesen, ihn für heute Abend einzuladen, was?"
Mia sah ihren Freund entgeistert an. "Das ist nicht dein Ernst!"
"Doch", sagte er kleinlaut.
Bevor ein Streit zwischen den beiden ausbrechen konnte, hob ich beschwichtigend die Hände. "Alles gut, Mia. Das ist nicht so schlimm. Ich komme klar."
"Sicher?" Mia sah immer noch so aus, als wolle sie Luca umbringen.
"Ganz sicher. Ich bin kein rohes Ei, Mia", sagte ich und klang dabei eingeschnappter und zickiger als ich wollte.
Doch das war nicht grundlos. Es ging mir einfach langsam auf die Nerven, dass sich jeder so um mich sorgte und Mitleid mit mir hatte. Ich wollte das einfach nicht mehr. Ich wollte nur, wie alle anderen auch, ganz normal behandelt werden.
"Ganz ruhig, Kätzchen", sagte Mia, hob abwehrend die Hände und drehte sich um. "Ich denke, ich lasse dich mal in Ruhe."
"Mia", sagte ich, wollte mich entschuldigen, doch sie war schon gegangen.
"Ich mache das schon", meinte Luca und folgte ihr.
Ich vergrub meinen Kopf in meinen Händen. "Warum ist das alles nur so kompliziert?"
Elsa strich mir mitfühlend über meine Haare. "Ist es doch gar nicht. Mia möchte dir nur helfen. Es ist auch für uns nicht gerade schön, dass Tom so eine Sache abgezogen hat. Wo ist unsere Hanna hin?"
Ich schwieg, weil ich darauf keine Antwort hatte. Ja, wo war die andere Hanna hin, die Hanna, die ich vor Tom gewesen war? Es gab sie nicht mehr. Oder sie war irgendwo ganz tief in mir drinnen versteckt, unerreichbar für mich und andere.
.
Abends zog ich einen hellbraunen Rock und eine weiße Bluse an. Dann schlüpfte ich in meine schwarzen Stiefel und war genau dann fertig, als es klingelte.
"Du siehst toll aus", sagte Elsa und umarmte mich zur Begrüßung.
"Danke, du aber auch", erwiderte ich. Das war untertrieben; Elsa sah umwerfend aus. Sie trug ein hellblaues Kleid und schicke hohe Schuhe. Ihre Haare fielen ihr leicht gelockt über die Schultern.
"Ach das", sagte Elsa nur und winkte ab. "Komm, lass uns fahren, sonst sind die guten Plätze alle weg."
Ich stieg in das Auto ihrer Mutter, die mir einen mitfühlenden und besorgten Blick zuwarf. Noch jemand, der Mitleid mit mir hatte. Sie waren wirklich überall. Doch zum Glück sprach sie mich darauf nicht an, sondern begrüßte mich nur.
Wir kamen sehr früh an der Schule an und sicherten uns Plätze in der dritten Reihe. Dann machten wir uns auf die Suche nach Mia und Luca. Wir fanden sie vor dem Raum, in dem die Streicher sich einspielten.
"Ihr seht toll aus!", sagte Mia und ich merkte sofort, dass sie mir verziehen hatte. Ich sah Luca dankend an und erwiderte dann das Kompliment.
"Du aber auch! Sind das etwa hohe Schuhe?", zog ich sie auf.
"Halt die Klappe", sagte Mia, doch ich wusste, dass sie es nicht ernst meinte.
Die Sache mit den hohen Schuhen war einfach ein Running Gag zwischen uns geworden. Mia hasste hohe Schuhe, und wenn sie doch mal welche anzog, dann nur zu besonderen Anlässen und Elsa und ich ärgerten sie damit jedes Mal.
"Sie hatte auf dem Weg hierhin Turnschuhe an", verriet Luca und kassierte prompt einen Schlag auf den Arm von Mia.
"Das sollten sie doch nicht wissen", zischte Mia und sah ihn böse an. Doch Luca streckte seine Hand aus und strich solange über die Falte auf ihrer Stirn, bis diese sich glättete. Dann grinste er triumphierend.
"Das erklärt alles", meinte ich. "Komm, Elsa, wir setzen uns."
Ich wollte den beiden ein wenig Zeit für sich lassen. Außerdem wurde es langsam voller und ich wollte das Risiko nicht eingehen, dass unsere Plätze weg wären. Wir hatten zwar unsere Jacken darauf gelegt, aber sicher konnte man sich ja nie sein.
Elsa schien zu verstehen und ging voraus. Plötzlich stellte sich mir jemand in den Weg. Ich wusste sofort, wer es war. Dafür reichte sein Geruch; der Geruch nach Orange.
Ich wollte mich an ihm vorbeischieben, doch er hielt meinen Arm fest. "Warte", sagte Tom. "Bitte." Ich zögerte. Das schien ihm zu reichen.
Er sah mir direkt in die Augen, ohne den Blick auch nur einmal abzuwenden. "Es tut mir leid. Ich hätte das nicht tun dürfen. Ich liebe Lilian nicht. Wir sind auch nicht mehr zusammen. Lass es mich nur erkl-"
"Nein", sagte ich. "Es gibt nichts, was du sagen könntest, damit ich dir verzeihe."
"Aber-", versuchte er es erneut, doch ich schnitt ihm wieder das Wort ab.
"Weißt du eigentlich, wie schmutzig ich mich fühle? Du hast mich nur benutzt. Und jetzt erwartest du, dass ich mit offenen Armen deine Entschuldigung annehme?" Mir stiegen die Tränen in die Augen, doch ich zwang mich weiterzureden. "Wenn du das denkst, bist du dümmer, als ich gedacht habe."
Ich drehte mich um und wollte gehen, doch Tom hielt immer noch meinen Arm fest. Er öffnete den Mund, doch ich war schneller.
"Lass mich los, Tom. Und folge mir nicht. Ich möchte das Konzert genießen können", sagte ich. In seinen Augen konnte ich sehen, wie sehr ich ihn verletzte, doch das, was ich gesagt hatte, entsprach der Wahrheit.
Er ließ meinen Arm los, obwohl er sich innerlich dagegen sträubte. "Okay. Ich...." Tom führte den Satz nicht zu Ende, sondern drehte sich um und ging.
Mir liefen die Tränen die Wangen hinunter, doch nach einem kurzen Badbesuch sah ich wieder halbwegs normal aus.
"Wo warst du?", fragte Elsa mich besorgt, als ich mich neben sie setzte. "Ich habe dich überall gesucht!"
"Ich war nur kurz auf Toilette", sagte ich. Elsa glaubte mir nicht, doch bevor sie etwas sagen konnte, ging das Licht aus und das Konzert fing an.
Wenigstens konnte jetzt niemand meine Tränen sehen.
DU LIEST GERADE
Winter Wonderland (Adventskalender)
Genç KurguVolle Läden, verbrannte Plätzchen, purer Stress. Das waren die drei Gründe, wieso Hanna die Weihnachtszeit nie genießen konnte. So ist es auch dieses Jahr. Nur dieses Mal kommt es noch viel schlimmer. Sie muss auf einen Weihnachtsmarkt! Und als wär...