Durch die Lande nach Wulfesal

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Eine faszinierende Welt lag vor Larno. Das Land der Linonen schien ein Landstrich erwartbarer Herrlichkeit und Fülle zu sein.

Verwilderte, unbestellte Felder, deren alte Getreidestände nicht einmal abgeerntet waren. Ebenfalls waren hier und dort am Wegrand Apfelbäume- vollhängend mit den Früchten des letzten Jahres, die nun als Futter für gierige Amseln im Winter dienten. Hohe tiefe Wälder, die guten Wildbestand vermuten ließen.

Und all dies bereits in unmittelbarer Nähe zur Burg in Bojek.

Niemand vermochte hiernach zu sagen, welche weiteren Überraschungen den neuen Bewohnern Bojek's noch bevorstanden. Hier eine neue Heimat gefunden zu haben, erschien ein Glück.

Vergeblich versuchte Larno, seine Begeisterung über die sich bietenden Möglichkeiten des Landstriches zu unterdrücken. Schon nach kurzer Reisezeit erfragte er dies oder jenes, was ihm interessant schien.

"Das Land war wohl sehr lang ohne Bewirtschaftung und Ackerbau?"

"Es waren die Zwistigkeiten und Kriege. Dies vertrieb vor langer Zeit schon die Menschen von hier.", gab Fräulein Nerin bekannt.

Damit hatte sie Recht. Schon als die Geflohenen im Tross auf dem Weg hier entlang kamen, war allen aufgefallen, wie leer und ausgestorben die Gegend wirkte.

Auch das Umland von Glina war reich an Möglichkeiten, ebenso wie um Bojek herum. Wenn hier ein Krieg wütete, dann wohl vor langer Zeit. Und wohl damals heftig genug, um die Menschen in den Schutz größerer Siedlungen wie Lenzen zu treiben.

"Aber dies ist gutes Weideland in der Aue und dazu ein ausreichend guter Boden. Seht- die Bäume hängen voll mit alten Früchten. Und die Wälder sind gut mit Wild besetzt, will ich meinen. Ich verstehe nicht, wieso solch Land so lange keine Nutzung findet?", suchte Larno nach einer Erklärung dafür.

"Das Land war sehr lange ein 'Streitland'. Kaum einer weiß noch die Gründe- so lange sind die Kriege zurück. Abodriten, Dänen, dann die Sachsen- danach wieder die Abodriten. Das Land der oberen Elde war bis vor dreißig Sommern noch Abodriten- Gebiet. Doch auch deren Leute siedelten sich hier nicht an- so nahe bei unserem Volk.", berichtete die Fürstentochter.

Ihr Bruder Beromir erhob dann seine junge Stimme und erklärte fort: "Nach dem Krieg der Slawenstämme gegen den Markgrafen Dietrich von Haldensleben hat Vater das Land zurückerhalten vom Abodriten- Fürst- im Tausch gegen Handelsrechte, Warenabgaben und Zusicherungen beiderseitigen Friedens. Doch es fanden sich nur Wenige, um die alten Siedlungen wieder aufzubauen- so habe ich es gehört!"

Nerin nickte zustimmend.

Nach weiterer Zeit der Reise wurde es merklich kühler und Wolken kündigten Regen an.

Der kalte und bislang trockene Ostwind umwehte die kleine Gruppe der Reisenden auf dem Weg von den Niederungen weg in die Wälder hinein.

Fräulein Nerin führte die Gruppe zielsicher immer weiter- nun auch abseits der Wege. Irgendwann rief sie den wenig gesprächigen, linonischen Kriegersmann Spyshek zu sich heran und befahl ihm, voraus zu reiten und die Ankunft der Kinder des Linonenfürsten in Wulfesal mitzuteilen.

Larno hatte durch den gemächlichen Ritt einiges an Kraft eingespart und blickte sich nach Stanielub um, der ohne Pferd zu Fuß folgte. Kurzentschlossen wählte auch Larno das Los des Fußmannes. Er hob sich aus dem Sattel und saß ab, um auf Stanielub zu warten.

"Der Wald sieht hier gänzlich anders aus, als daheim im Brisanenland. Findest Du das nicht auch?", fragte Stanielub - schnell atmend vom Nacheilen der Reiter.

Larno blickte sich um- auch auf das voraus liegende Waldstück. Die Böden waren hier sehr feucht und mit Gras sowie Moos bewachsen. Bäume standen weit auseinander- nicht so eng und Dickicht bildend, wie nahe Slivor. Sie ließen einen weiten Blick voraus zu.

"Ja. daheim konnte man nie so weit blicken, wie hier- selbst jetzt nicht, in der Zeit ohne Blätter.", bestätigte Larno die Frage.

"Ich habe schon seit längerer Zeit so ein Kratzen im Nacken! Wie von einer nahen Gefahr, sag ich Dir. Doch dann blickt man sich um und nichts ist zu sehen- und hier kann man weit blicken durch die Bäume. Keine fremden Schritte oder Laute hört man. Keine Vögel, die aufschrecken. Nur knackende Äste unter den Hufen der Pferde!" Stanielub schien seinem 'Kratzen' mit Gegenkratzen antworten zu müssen.

"Hier stehen die Bäume lichter- man sieht hier gut. Sich da versteckt zu halten, wäre sehr schwierig, sollten uns Gefahren drohen.", stellte Larno fest und schien damit dessen Gedanken auszusprechen. Dennoch wollte er seinen Schwiegervater beruhigen.

Stanielub seinerseits hielt kurz inne. Er stemmte sich die Arme in die Hüfte und streckte seinen Rücken nach hinten durch. Dabei verzog er sein Gesicht zu einem Schmerzensausdruck. Diese zusätzlichen Wege schienen ihn anzustrengen, auch wenn er kein Wort darüber verlor.

"Wir werden wohl bald am Ziel sein, wenn ich den Fürstensohn richtig verstanden habe. Und damit noch vor der Dunkelheit.", gab Larno dem alt gewordenen Krieger bekannt. Er wollte Stanielub damit Hoffnung geben, seine müden Knochen bald an ein warmes Feuer setzen zu können.

"Hör mir zu, Junge. Ich weiß, warum es Dich nach Burg Wulfesal zieht. Und ich verstehe deinen Wunsch, Gewissheit bekommen zu wollen. Doch versprich Dir nicht zu viel davon, hörst Du? Viel Zeit ist vergangen. Und es kann sein, dass Niemand mehr da ist, der Auskunft geben kann oder vielleicht deine Mutter noch kannte. Vielleicht hatte deine Mutter sogar noch mehr Geheimnisse, von denen Du nichts weist? Also sei nicht enttäuscht, wenn diese Reise keine Antworten bringt!"

Der Einwand des alten Stanielub war berechtigt. Larno hatte selbst Zweifel am Erfolg der Reise- auch darüber, das er auf Burg Wulfesal noch Jemanden antreffen würde, der entweder seine Mutter Larna oder ihn selbst noch kennen könnte. Und was wäre, wenn die Mutter doch nicht alles auf dem Sterbebett offenbart hatte?

"Wir werden sehen, ob ich Antworten erhalte. Vielleicht hilft es mir, mich wenigstens an etwas zu erinnern, wenn wir erst da sind?"

Noch einmal machte Stanielub einen Buckel, um sich durchzustrecken. Dann schüttelte er die Beine aus. Dies schien wohl ausreichend, um weiter zu dem nahem Ziel zu gehen.

"Warum sitzt Du nicht auf dem Pferd, dass der Fürst Dir zum Geschenk gemacht hat? Du bist jetzt der Herr von Bojek!", witzelte Stanielub lächelnd, dass auch Larno schmunzeln musste.

"Der Herr von Bojek!"

"Glaube mir. Meine Nemanja wäre stolz auf Dich. Sie würde Dir von den Göttern zulächeln!"

Larno erinnerte sich zu gern an Nemanja's Lächeln. Noch vor wenigen Wochen durfte er es sehen. Nun jedoch war die Braut nicht mehr an seiner Seite. Ihr Tod war schmerzlich. Hätte es Nemanja wirklich gefallen, ihn so zu sehen?

"Herr von Bojek!", flüsterte Larno leise vor sich hin.

Stanielub schien die Unruhe in Larno zu bemerken. "Es hätte ihr gefallen, glaube mir. Kein anderer Mann unter uns hat es mehr verdient, so genannt zu werden. Du hast uns geeint und im Kampf geführt- und auch danach. Die Wahl der Leute war gut! Und richtig!"

"Ja. Vielleicht hätte es Nemanja gefallen. Du kennst deine Tochter besser als jeder Andere, besser als ich selbst sie kannte und das Glück hatte, an ihrer Seite zu sein. Womöglich hätte sie sich lustig gemacht, mich auf einem Pferd sitzen zu sehen."

Stanielub holte unerwartet seinen rechten Arm aus und hieb damit fest auf Larno's Schulter, grade so, als müsse er Larno wieder wach machen. "Ja. Womöglich hätte das meine Tochter getan. Das klingt nach ihr."

"Deine Tochter- meine Braut. Nemanja war eine sehr starke Frau!", stellte Larno für sich und Stanielub fest.

Der Wind trug ein fernes Geräusch heran. Es klang wie Holzeinschlag oder Axthiebe auf Holz.

"Die Fürstentochter hat Dich doch Larno Wulfesal genannt. Nicht?", fragte Stanielub.

"Ja."

"Nun. Wollen wir doch einmal heraus finden, wie viel 'Wulfesal' noch in Dir lebt! Mein Junge."

Endlich war das Ziel sehr nahe.

Sowohl Stanielub als auch Larno waren nun wieder gut auf den Füßen und versuchten an die Fürstenkinder Anschluss zu bekommen.

Dort wo der Wald sich erneut lichtete, kam ein Weg ins Blickfeld- das letzte Wegstück zur Burg Wulfesal hin.

- Larno- Im Ränkespiel der MachtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt