50 kg, 20. August
Sobald die Schulklingel ertönt war, packten alle zügig ihre Sachen zusammen und liefen raus, um so schnell wie möglich ins Wochenende zu fliehen. Ich ließ mir Zeit, denn ich hatte es nicht sonderlich eilig Nachhause zu kommen. Dort würde ich mir nur eine weitere Ausrede einfallen lassen müssen, weshalb ich wieder kein Mittagessen aß und so langsam merkte ich meiner Mutter an, dass sie mir meine Notlügen nicht mehr abkaufte.
Während ich meine Tasche einräumte, spürte ich die Blicke meiner Freundinnen auf mir, also beeilte ich mich dann doch und schulterte meinen Rucksack. Gerade als ich den Klassenraum verlassen wollte, wurde ich zurück gerufen: „Olivia, hättest du noch einen Moment?", verwirrt drehte ich mich zu Mrs Bell, meiner Klassenlehrerin, um und nickte, als ich ihren ernsten Gesichtsausdruck sah. „Wir warten dann draußen auf dich.", meinte Berit und meine Freundinnen verließen mit ein paar Nachzüglern, welche mich neugierig beäugten, den Raum.
Mrs Bell war eine meiner Lieblingslehrerinnen und dass nicht nur, weil sie meine Lieblingsfächer Deutsch und Englisch unterrichtete, sondern weil sie an sich einfach ein sehr angenehmer Mensch war. Sie war offen, lustig und man spürte bei ihr einfach die Freude am Lehrerberuf. Trotzdem wunderte ich mich, warum sie mit mir reden wollte, denn ich war immer eine gute Schülerin gewesen und besonders in ihrem Unterricht mit meinen Gedanken so gut wie immer beim Thema.
„Setz' dich doch kurz.", sie deutete auf den Tisch der ersten Reihe und als sie meinen unsicheren Gesichtsausdruck bemerkte, fügte sie mit einem freundlichen Lächeln hinzu: „Keine Sorge, du hast nichts verbrochen." Zwar beruhigte mich das jetzt nur ein klein wenig, dennoch setzte ich mich. Mrs Bell lehnte sich an das Lehrerpult und betrachtete mich einen Moment nachdenklich, bevor sie anfing zu sprechen:
„Olivia, mir ist aufgefallen, dass du in letzter Zeit immer ruhiger im Unterricht geworden bist. Natürlich sind deine Beiträge qualitativ immer noch sehr gut, dennoch ist die Anzahl nicht mehr so hoch, wie ich es von dir gewohnt bin. Außerdem finde ich, dass du in letzter Zeit stark abgenommen hast und das, obwohl du schon immer eine schlanke Figur hattest. Ist alles okay bei dir zuhause?"Das war ein Schock. Es war sogar Mrs Bell aufgefallen, dass ich an Gewicht verloren hatte? Sie machte sich bereits Sorgen um mich? Dabei war ich doch gar nicht so dünn. Immer noch im normalgewichtigen Bereich oder höchstens knapp darunter. Noch nicht mal meine Freundinnen oder Eltern hatten mich so direkt darauf angesprochen.
„Olivia, es tut mir Leid, falls ich mich da in etwas eingemischt habe oder ich bei dir einen wunden Punkt getroffen hab'. Nur ich merke als Klassenlehrerin natürlich, dass sich etwas verändert hat und sehe es daher als meine Pflicht an, mal nach zu hören, ob alles okay ist.", Mrs Bell strich sich eine ihrer braunen Haarsträhnen hinter ihr Ohr.
Es tat mir Leid, dass Mrs Bell sich um sich sorgte, wo doch alles in Ordnung war. Also setzte ich ein Lächeln auf, welches mir mittlerweile wie eingeübt vorkam und beruhigte sie: „Es ist wirklich nett, dass sie sich um mich sorgen, doch es ist alles gut. Wirklich. Und an meiner Mitarbeit werde ich nochmal etwas arbeiten."
Skeptisch sah Mrs Bell mich an, doch sie entschied sich dazu, mir zu glauben: „Na gut, dann will ich dich mal nicht länger aufhalten. Doch falls etwas sein sollte, bitte, melde dich gerne bei mir." Dankbar nickte ich: „Werde ich machen, vielen Dank. Schönes Wochenende!" „Danke, dir auch, Olivia." Mit diesen Worten verließ ich den Raum und ich hatte das Gefühl, ich hätte Mrs Bell gerade von etwas überzeugen müssen und wäre dabei kläglich gescheitert.
Vor dem Eingang der Schule saßen meine Freundinnen und warteten auf mich. „Und, was wollte sie?", fragte Katy sofort, als sie mich erblickte. Gelangweilt zuckte ich mit den Schultern: „Nichts besonderes. Wollte nur wissen, ob alles okay ist und dass ich mit ihr reden kann, falls dem nicht so ist." „Was hast du gesagt?", fragte Alisa vorsichtig. „Na, dass alles gut bei mir ist, was sonst?", ich sah kurz zu Alisa, doch der Blick ihrer eisblauen Augen bohrte sich in mich ein und mir war klar, dass sie mir kein Wort glaubte. Glücklicherweise rettete mich Charlys Bauchkrummeln: „Oh Gott, Leute, ich sterbe vor Hunger! Wir sehen uns dann später!", sie drückte uns alle kurz zum Abschied und ging dann fort. Auch wir anderen trennten uns, nur Katy und ich gingen noch ein Stück nebeneinander her, da wir nicht weit voneinander entfernt wohnten.
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Zwischen Tag und Nacht || anorexia nervosa
Roman pour Adolescents„Du müsstest jemanden sehr hassen, um ihn verhungern zu lassen." Sein Blick traf mich so plötzlich und brannte sich so tief in mein Gedächtnis ein, sodass ich nicht anders konnte, als ihm auszuweichen und auf den Boden zu starren. Schon wieder brann...