40,9 kg - Samstag, 30. September
Obwohl ich für die Anderen den Entschluss gefasst hatte, wenigstens einen Versuch zu starten, wieder gesund zu werden, konnte ich den Schritt auf die Waage trotzdem nicht lassen. 40,9 kg - Abgenommen. Erleichtert atmete ich auf. So konnte ich wenigstens positiver in den Tag starten.
Gerade als ich mich wieder angezogen hatte, klopfte es zaghaft an meiner Tür und Elena steckte den Kopf herein: „Guten Morgen. Kommst du... frühstücken?" Ich sah, wie verdammt unangenehm ihr diese Frage war, doch ich nickte bestätigend. Für sie. Ein kurzes Lächeln der Erleichterung huschte über ihr Gesicht, dann öffnete sie die Tür ganz, damit ich ihr direkt nach unten folgen konnte.
Zugegebenermaßen war ich ziemlich nervös, nervöser, als ich es mir vorgestellt hatte. Immerhin war es nur ein Frühstück mit meiner Familie. Jedoch konnte ich mich auch nicht mehr daran erinnern, wann ich zuletzt mit ihnen zum Frühstück am Tisch gesessen hatte. Zumindest nicht mit dem Vorsatz, tatsächlich etwas zu essen.
Ich atmete einmal tief durch, dann ging ich hinter meiner großen Schwester die Treppe runter. Meine restliche Familie saß bereits am Tisch und hatte mit dem Bestreichen der frischen Brötchen, deren Duft den ganzen Raum durchflutete, begonnen. Elena setzte sich ebenfalls und schnappte sich ein Brötchen, währenddessen ich mir erstmal ein Glas Wasser einschenkte und mich dann hinsetzte. „Guten Morgen ihr zwei.", mein Vater lächelte uns beiden zu, doch dahinter schimmerte immer noch die Besorgnis durch.
Kritisch beäugte ich die Brötchen im Korb und entschied mich dann für das Kleinste. Schon während ich meinen Arm Richtung Brötchenkorb bewegte, hatte ich das Gefühl, alle seien in ihrer momentanen Bewegung erstarrt und würden mich beobachten. Ein unangenehmes Gefühl breitete sich in mir aus und am Liebsten hätte ich jetzt schon abgebrochen, doch die Augenringe meiner Mutter und noch immer angequollenen Augen meiner Schwester sprachen für sich.
Also legte ich mir das Brötchen auf den Teller und befasste mich mit der nächsten Aufgabe: Welcher Belag? Elena, die vermutlich bemerkt hatte, wie unangenehm und sonderbar die Situation war, versuchte, ein Gespräch zum Laufen zu bringen, um von mir abzulenken. Meine große Schwester und ich standen uns schon immer nah und durch meine Erkrankung war eine gewisse Distanz zwischen uns aufgekeimt, doch diese hinderte uns wohl nicht daran, uns auch manchmal ohne Worte verständigen zu können.
Zu der Erleichterung aller entwickelte sich ein richtiges Gespräch zwischen Elena und meinen Eltern, bei dem sogar Tessa sich manchmal einmischte und ich konnte mich ganz und gar auf die Wahl des Belags konzentrieren. Butter? Nein, unnötige Kalorien. Nutella? Auf keinen Fall. Käse? Nope. Letztendlich entschloss ich mich für körnigen Frischkäse mit einer kleinen Tomate obendrauf, da ich mich erinnern konnte, dass meine Mum das eine Zeit lang auf ihrem Brötchen gegessen hatte, wenn sie wiedermal versucht hatte, abzunehmen. Es erschien mir wie das kleinste Übel.
Ich atmete einmal tief durch, vertrieb die bösen Gedanken so gut es ging und biss hinein. Ein wohliges Gefühl breitete sich in mir aus und der wohltuende Geschmack der frischen Brötchen veranlasste mich dazu, einen weiteren Bissen zu nehmen. Und noch einen. Und noch einen. Schneller als erwartet hatte ich die erste Hälfte meines Brötchens gegessen und, Überraschung, es ging mir tatsächlich gut. Mein Bauch rumorte und verlangte nach mehr Nahrung, die ich ihm so lange verweigert hatte und diese sollte er bekommen.
Meine zweite Brötchenhälfte aß ich wieder mit Frischkäse, diesmal träufelte ich aber einen Esslöffel Marmelade darüber, um nochmal etwas Süßes zu probieren. Kurz gefasst: Es war göttlich. Ich hatte ganz vergessen, wie lecker so ein Frühstück war.
Meine Eltern hatten mich die gesamte Zeit in Ruhe gelassen, wofür ich ihnen sehr dankbar war, doch die freudigen Blicke, die sie und meine Schwester austauschten, sprachen Bände. Sie waren erstaunt, aber im positiven Sinne und es machte mich auch froh, sie so zu sehen.
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Zwischen Tag und Nacht || anorexia nervosa
أدب المراهقين„Du müsstest jemanden sehr hassen, um ihn verhungern zu lassen." Sein Blick traf mich so plötzlich und brannte sich so tief in mein Gedächtnis ein, sodass ich nicht anders konnte, als ihm auszuweichen und auf den Boden zu starren. Schon wieder brann...