Meine Augen, welche durch die vergossenen Tränen verschleiert waren und einige Zeit brauchten, um zu fokussieren, blickten den Jungen an, welcher sich dort vor mich gestellt hatte.
Er war relativ groß und eher schmal gebaut, jedoch wirkte er nicht schlaksig. Seine Kleidung war schlicht, aber aufeinander abgestimmt. Doch was am meisten hervorstach, waren seine Augen und seine Haare. Beides war extrem hell. Seine Haare waren so blond, dass sie fast weiß waren und seine Augen hatten ein ebenso helles Blau. In Kontrast dazu traten seine Augenbrauen, welche eher dunkel waren genauso wie auch seine Wimpern. Scheinbar musste er seine Haare gefärbt haben. Ziemlich mutig, doch es sah nicht schlecht aus. Im Gegenteil, es wirkte, als wäre genau das schon immer seine Haarfarbe gewesen.
„Alles okay bei dir?", seine Stimme klang freundlich und auch sonst wirkte er sympathisch, doch trotzdem war er fremd. Und in der Verfassung, in der ich mich gerade befand, hatte mich fast noch nie jemand gesehen und ganz sicher nicht ein komplett Unbekannter. Also wischte ich mir über die nassen Wangen, nickte einmal und stand vom Boden auf. So erbärmlich wollte ich nicht wirken. Ich fuhr meine Mauer wieder hoch, die mich in den letzten Monaten so gut vor jeglichen Gefühlen hatte schützen können.
„Dass das nicht die Wahrheit ist, sieht selbst ein Blinder. Ich bin Caleb.", der Junge mit den weißen Haaren streckte mir die Hand hin. Ich starrte erst auf die Hand, dann sah ich wieder hoch zu ihm. Jetzt im Stehen konnte ich sagen, dass er locker 1 1/2 Köpfe größer als ich war.
„Mir geht es gut.", sagte ich mit Nachdruck in der Stimme, denn wenn ich das vor ihm nicht spielen konnte, jemandem, der mich so gar nicht kannte, wie sollte ich es dann vor meiner Familie schaffen? Wobei ich bei ihnen sowieso schon versagt hatte. Durch meine Unfähigkeit, mich bei ihnen normal zu verhalten, landete ich jetzt hier. Verlor die Kontrolle. Verlor mein Leben. Verlor mich selbst. Was ja nicht schon längst geschehen war...
Bei dem erneuten Gedanken an meine mir bevorstehende Zukunft traten mir wieder die Tränen in die Augen, weshalb ich mich von Caleb wegdrehte. Das hier war alles nur ein Alptraum und er war ein Teil davon. Ich würde aufwachen und alles wäre beim Alten. Das Gespräch mit Dr. Rollins hätte nie stattgefunden, ich wäre jetzt in der Schule und nicht hier und alles wäre gut. So gut. Ich hätte noch alles im Griff.
„Wie heißt du?", fragte Caleb nun, der sich immer noch hinter mir befand. Scheinbar war ihm langweilig, wer würde sich sonst freiwillig mit diesem psychischen Wrack auseinandersetzen?
Doch wie eben entschied ich mich auch jetzt nur für die Antwort: „Mir geht es gut." In meinem Kopf wiederholte ich diesen Satz immer wieder, bis ich es irgendwann anfing zu glauben. Zumindest konnte ich dem so viel Glauben schenken, dass ich nicht mehr befürchten musste, in Tränen auszubrechen. Hinter mir seufzte Caleb. Was hatte er erwartet? Dass ich ihm mein Herz ausschüttete und er mir half, meine Probleme zu lösen? Wohl kaum.
Die Entscheidung, ihm meinen Namen zu sagen, wurde mir allerdings kurz darauf genommen als jemand in der Ferne meinen Namen rief. Ich atmete einmal tief durch, dann wandte ich mich nochmal kurz zu ihm um. Seine eisblauen Augen lagen ruhig auf mir und scheinbar war er kein bisschen verstört von meinem Verhalten, welches sich in den letzten Minuten ganz weit weg von normal befunden hatte.
Ihm „Tschüss" oder „Auf Wiedersehen" zu sagen kam mir auch irgendwie falsch vor, denn um ehrlich zu sein hatten wir uns nichtmal richtig unterhalten. Also wandte ich mich, nachdem mir der Blick seiner Augen zu intensiv wurde, um und machte mich auf den Rückweg zur Klinik.
„Olivia also."
***
Nachdem mich eine leicht überforderte Jenna zurück zur Klinik gebracht hatte, wollte ich das Gebäude nicht mehr betreten. Lieber stand ich hier draußen vor unserem Auto und fror. Nichts würde mich dazu bewegen, dort wieder freiwillig reinzugehen. Mein Beileid an Jenna, die nur kurz Dr. Breit telefonisch mitteilte, dass sie mich gefunden hatte, um dann mit mir draußen auf meine Eltern zu warten. Scheinbar trauten sie mir nicht zu, dass ich alleine warten konnte.
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Zwischen Tag und Nacht || anorexia nervosa
Teen Fiction„Du müsstest jemanden sehr hassen, um ihn verhungern zu lassen." Sein Blick traf mich so plötzlich und brannte sich so tief in mein Gedächtnis ein, sodass ich nicht anders konnte, als ihm auszuweichen und auf den Boden zu starren. Schon wieder brann...