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41 kg - Dienstag, 03. Oktober

Der erste Tag, an dem ich offiziell die Schule nicht mehr besuchen musste, verlief folgendermaßen:
Als meine Mutter morgens in mein Zimmer schaute, stellte ich mich schlafend, obwohl ich längst wach war. Mein Wecker hatte ganz normal geklingelt, damit ich mitbekam, ob alle das Haus verließen. Zu meiner Überraschung gingen alle zur gewohnten Uhrzeit aus dem Haus. Ich hatte damit gerechnet, dass entweder meine Mum oder mein Dad zuhause bleiben würden, doch scheinbar waren sie froh, sich für eine Zeit in ihre Jobs zu stürzen. So hatte ich bis Mittags Ruhe und konnte mich wenigstens etwas bewegen, da ich ja von nun an eigentlich ans Bett gefesselt war.

Zu aller erst ging ich auf Klo, um mich daraufhin komplett leer zu wiegen. Selten hatte mein Herz so schnell gepocht: Seit zwei Tagen hatte ich mich nicht mehr gewogen, da ich am Samstag den Fressanfall hatte und mich nicht mehr auf die Waage getraut hatte. Umso glücklicher war ich, als die Waage 41 kg anzeigte - Abgenommen!

Dann ging ich die Treppe runter, um ein Frühstück vorzutäuschen. Dabei fand ich einen Zettel auf dem Tisch, der noch teilweise für mich gedeckt war: Olivia, bitte iss ein Brötchen und trink ein Glas Saft. Heute Mittag koche ich, bis später, Mama.

Ich schüttete mir ein Glas Saft ein, welches ich aber sofort in den Abfluss kippte. Das Brötchen, was sie mir bereitgelegt hatte, schnitt ich auf, damit die Krümmel darauf schließen ließen, dass ich tatsächlich gegessen hatte. Mein Messer tunkte ich einmal in die Marmelade, damit auch dieses benutzt aussah und dann stellte ich alles zusammen auf die Spüle - perfekt. Nur das Brötchen musste ich noch los werden, doch da mich niemand davon abhalten konnte, konnte ich das bei einer kleinen Joggingrunde draußen erledigen.

Nachdem ich vollkommen geschwitzt und erschöpft von draußen wiederkam, genehmigte ich mir ein Glas Wasser und eine warme Dusche, woraufhin ich wieder meine Schlafsachen anzog, damit es glaubhaft schien, dass ich tatsächlich den ganzen Tag, außer zum Frühstück natürlich, im Bett geblieben war.

Mittags kamen meine Mum und meine kleine Schwester Tessa heim. Tessa ignorierte mich, wie immer, doch meine Mutter steckte den Kopf durch die Tür, um nach mir zu sehen. Mein Versuch, mich einfach wieder schlafend zu stellen, missglückte, denn sie schüttelte sanft an meiner Schulter: „Olivia? Aufwachen, wir sind wieder da."

Und während ich mich vermeintlich wach blinzelte und reckte sah ich einen Ausdruck in den Augen meiner Mutter, den ich schon lange nicht mehr gesehen hatte: Wärme.

Sobald ich allerdings „wach" war, verschwand dieser Ausdruck wieder. Stattdessen sagte sie ziemlich kühl: „Ich mache jetzt Mittagessen." Stumm nickte ich, denn ihr Blick verriet, dass sie keine Widerworte duldete. Das hieß für mich aber nicht, dass ich mich einfach so geschlagen geben würde.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der ich unruhig in meinem Zimmer rumtigerte und unten verheißungsvoll die Dunstabzugshaube rumorte, klopfte es an zaghaft an meiner Tür. Meine kleine Schwester steckte den Kopf durch einen kleinen Spalt und ohne mich wirklich anzusehen, verkündete sie mir die Botschaft, vor der ich mich die ganze Zeit gefürchtet hatte: „Essen." Sofort verschwand ihr kleiner Lockenkopf wieder, was mir einen Stich versetzte.

Ich und Tessa hatten immer ein unglaublich gutes Verhältnis zueinander gehabt. Unzählige Male war das kleine Mädchen wegen eines Alptraums zu mir ins Bett geklettert und hatte mich am nächsten Morgen mit einer Kissenschlacht geweckt. Das schreckliche Gefühl, was sich bei diesen Gedanken in mir ausbreitete, schluckte ich schnell runter. Sowas konnte ich jetzt nicht zulassen. Sonst würde ich zerbrechen,

Möglichst gefasst machte ich mich auf den Weg in die Küche, doch in meinem Kopf tobte ein Sturm. Alles in mir wollte am Liebsten davon rennen und so weit von dieser Küche weg, wie nur irgendwie möglich. Doch es ging nicht, war nicht möglich. Vielleicht, wenn ich mich jetzt überwinden könnte, würden meine Eltern die Entscheidung mit der Klinik noch einmal überdenken...

Zwischen Tag und Nacht || anorexia nervosaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt