Noch am selben Abend klingelte das Telefon und Dr. Rollins war am anderen Ende der Leitung. Sie sprach mit meinem Vater, welcher mir später von dem Gespräch berichtete.
„Dr. Rollins hat mit einem Psychologen der Sonnentalklinik gesprochen und bevor sie dich auf die Warteliste der Klinik setzen können, würden sie dich gerne persönlich sehen und mit dir sprechen. Zwar ist Dr. Rollins eine qualifizierte Ärztin, doch auf diesem Gebiet darf sie keine festen Diagnosen geben, sondern eben nur einen Verdacht aussprechen. Wir haben direkt am Montag einen Termin, dann können wir uns gleich die Klinik anschauen.", aufmunternd lächelte mein Dad mir zu. Ich spürte förmlich, wie erleichtert er war, endlich etwas zu unternehmen und wenigstens irgendwas zu haben, was so halbwegs an einen Plan herankam.
Diese Erleichterung löste bei mir allerdings eher Entsetzen aus und auch meine Mutter schien nicht so optimistisch wie er zu sein, denn seitdem wir aus der Praxis wieder da waren, hatte ich sie nicht mehr gesehen, außer als sie mich zum Mittagessen überreden wollte. Allerdings hatte ich lange genug mit ihr diskutiert, bis sie erschöpft aufgab und sich auf den Kompromiss „Buchstabensuppe" einließ, wobei ich die kleinen Nudeln in Buchstabenform möglichst unauffällig im Teller ließ. Das gleiche Spiel war beim Abendessen passiert, welches ich unbedingt einnehmen wollte, bevor Elena wieder zuhause war, denn ich wusste, dass sie mich nicht so einfach von der Angel lassen würde. Schließlich war sie mir nicht jeden Tag der letzten Wochen ausgesetzt gewesen, sondern höchstens am Wochenende und selbst dann konnte sie wegen der Uni nicht immer kommen.
Mittlerweile saß ich in meinem Zimmer auf meinem Bett, mein Dad hatte es aufgegeben, eine Antwort von mir zu bekommen und das Zimmer wieder verlassen, jedoch mit angelehnter Tür. Nun wartete ich auf die wahrscheinlich größte Standpauke, die ich jemals von Elena bekommen würde, denn sie konnte sehr aufbrausend und direkt werden, wenn etwas nicht so lief, wie sie es gern hätte.
Auch Tessa schien zu merken, dass etwas sich verändert hatte, denn sie tigerte mehrmals nervös vor meinem Zimmer herum, doch herein kam sie nie.
Brr brr - Zum wiederholten Mal vibrierte mein Handy, doch seitdem meine Eltern mich von der Schule hatten abholen müssen, hatte ich es nicht mehr aus meiner Tasche geholt. Hoffentlich war bald der Akku leer, dann konnte ich wenigstens in der Online-Welt verschwinden. Wobei ich viel lieber aus der jetzigen Situation verschwinden würde...
Auf einmal hörte ich das Aufschwingen der Haustür und ich wusste, jetzt war es so weit. Innerlich wappnete ich mich und probierte, mir einfach keine Gefühlsregung anmerken zu lassen. Das war der perfekte Abwehrmechanismus, wie ich in den letzten Wochen herausgefunden hatte. Unten hörte ich leise die Stimmen meiner Familie und dann meine kleine Schwester die „Elena!" rief. Allerdings dauerte es keine zwei Minuten, bis ich meine Schwester die Treppe hochstapfen hörte. Niemand ging so laut eine Treppe hoch wie sie.
Ungewollt schlug mein Herz schneller und ich befahl mir, ruhig zu bleiben. Egal, was Elena mir jetzt an den Kopf werfen würde, wahrscheinlich hätte ich es auch noch verdient.
Schließlich war sie oben angekommen, doch sie stürmte nicht wutentbrannt in mein Zimmer, wie ich erwartet hatte, sondern eher vorsichtig, so als wüsste sie nicht, was sie erwarten würde. Sobald sie mich auf meinem Bett erblickte, wich alle Farbe aus ihrem Gesicht und Tränen traten in ihre Augen. Ihr Körper begann zu beben und es dauerte nicht lang, bis die Tränen über ihr Gesicht rannen, während sie zu Boden sank.
Vollkommen erschrocken vergaß ich alle meine Vorsätze, ja keine Emotionen zu zeigen und fragte vollkommen perplex: „E-elena? Alles ok?"
Meine sonst so taffe Schwester blickte mich an und ein bittersüßes Lächeln zierte ihre Lippen, während sie schluchzte: „Das fragst grade du."
Ich schluckte und starrte beschämt auf meine Hände. Das hatte gesessen, denn es war so verdammt wahr. Und dennoch kam es mir in diesem Moment so vor, als hätte ich kein Recht darauf, mich schlecht zu fühlen, schließlich war ich der Grund dafür, dass es Elena so mies ging.
So schnell wie ich eben konnte, was unter meinen Umständen nicht sonderlich schnell war, stand ich auf und tappte auf meinen Wollsocken durch den Raum. Langsam kniete ich mich neben sie und zum ersten Mal nahm ich sie in den Arm und tröstete sie. Dieser Umstand war so ungewohnt, dass Elena nur noch mehr weinte und sich vorsichtig an mich lehnte.
„Livy.. ich ma-ache mir so Sorgen... was bin ich für eine Schwe-ster....", doch ich unterbrach sie nur: „Dafür kannst du nichts. Dafür kann niemand was." Das war der erste Moment, indem ich unbewusst etwas wirklich Wahres über meine Essstörung sagte, obwohl ich es in diesem Moment noch nicht realisierte...
So zusammen gekauert saßen wir noch eine gefühlte Ewigkeit da und doch hatte ich das Gefühl, dass dieser Moment nötig gewesen war, um einander zu zeigen, wie sehr wir uns doch um den jeweils anderen sorgten. Kurz vor Mitternacht konnte Elena ihre vom Weinen rot geschwollenen Augen kaum noch aufhalten, weshalb ich ihr irgendwann sagte: „Es ist okay, Elena. Du kannst ruhig schlafen gehen, morgen ist ja auch noch ein Tag." Müde blickte sie mich an, so, als wüsste sie, dass morgen der nächste Tag war, sie sich aber nicht sicher war, ob ich morgen noch hier sein würde. Schließlich siegte die Müdigkeit und nachdem ich sie auch noch davon überzeugen musste, dass sie ruhig in ihrem Zimmer schlafen konnte und sie nicht bei mir bleiben musste, war ich allein.
Erschöpft sank ich in die weichen Kissen meines Bettes, die meinem kantigen Körper viel besser bekamen als der harte Boden auf dem ich die letzten Stunden verbracht hatte. Im Dunkeln meines Zimmers leuchtete immer wieder mein Handy auf und obwohl es nur leicht durch meine Tasche schien, nervte es mich irgendwann so sehr, dass ich aufstand um es auszumachen. Allerdings konnte ich mir nicht verkneifen, noch einen Blick darauf zu werfen.
Ich hatte gefühlt hundert Anrufe und Nachrichten, allesamt von meinen Freundinnen, die meisten von Katy und auch ein paar von Elena, die sie geschrieben hatte, bevor sie hier eingetroffen war. Beim Durchlesen der Nachrichten bildete sich ein Kloß in meinem Hals und es fiel mir unglaublich schwer, das schlechte Gewissen zu ignorieren, was sich dabei in meinem Kopf breit machte. Du wirst geliebt...
Nicht nur meiner Familie sondern auch meinen Freunden tat ich als einzelne Person so viel Leid an und das tat mir unglaublich Leid. Das hatte ich nie gewollt. Das war nie meine Absicht.
Früher dachte ich, dass ich die einzige Person war, der ich über die Monate Schaden hinzugefügt hatte. Jetzt war mir klar, dass genau das Gegenteil der Fall war.
Und in dieser Nacht schwor ich mir, dass ich für all diese Personen versuchen würde, mein Leben wieder auf die Reihe zu bekommen. Wenn nicht für mich, dann für die Personen, denen ich etwas bedeutete. Ich würde es wenigstens probieren. Für die Anderen...
Hey an alle meine treuen Leser da draußen!☺️ Es tut mir sehr Leid, dass ihr wieder so lange auf ein neues Kapitel warten musstet, doch schulisch ist gerade echt viel los bei mir 😫 ich probiere, am Wochenende einiges vorzuproduzieren, damit ich regelmäßiger updaten kann. 😋
Meinungen oder Kritik?
Wird Olivia es tatsächlich versuchen oder gibt es einen Haken?
Hättet ihr damit gerechnet, dass Elena so reagiert?
Bis bald, eure Mel 💛
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Zwischen Tag und Nacht || anorexia nervosa
Teen Fiction„Du müsstest jemanden sehr hassen, um ihn verhungern zu lassen." Sein Blick traf mich so plötzlich und brannte sich so tief in mein Gedächtnis ein, sodass ich nicht anders konnte, als ihm auszuweichen und auf den Boden zu starren. Schon wieder brann...