56,5 kg, 08.Juli
„Hey. Es tut mir wirklich unglaublich Leid, dass ich nicht zu deiner Geburtstagsparty kommen kann, aber mich hat wohl die Grippe erwischt und ich liege flach :/ Wäre wirklich sehr gerne gekommen. Macht euch aber trotzdem einen schönen Abend und übertreibt es nicht ;)"Mein Finger schwebte über dem Sende-Symbol. Sollte ich wirklich schon wieder einen Geburtstag ausfallen lassen? Soweit ich mich erinnern konnte, hatte ich schon mehrere Wochen nichts mehr mit meinen Freundinnen unternommen. Andererseits hatte ich heute morgen einen Stillstand auf der Waage erlebt und wenn ich mein Wochenziel für diese Woche, die 56 kg zu knacken, erreichen wollte, konnte ich es mir eigentlich nicht erlauben, heute Abend in Versuchung zu geraten.
Ich sah auf mein aufgeschlagenes Buch neben mir: Kalorienaufnahme bis jetzt: 900, Sport: Schulsport, eine Runde mit dem Hund. Okay, ich konnte es wirklich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, heute noch auszugehen. Lieber blieb ich daheim, konnte so auf jeden Fall unter 1000 Kalorien bleiben und vielleicht noch ein Workout machen. Entschieden schickte ich die Nachricht an meine beste Freundin Katy ab, dann klappte ich das Buch neben mir zu und verstaute es sicher in der hintersten Ecke meines Nachtschränkchens. Nicht, dass ich was zu verbergen hätte, doch wollte ich nicht, dass meine Mum sich unnötig Sorgen machte und es hatte ja auch niemanden was anzugehen.
Da ich ja nun heute nicht mehr rausgehen würde, zog ich meine Jeans aus und betrachtete meine nackten Beine im Spiegel. Ich hatte bald schon 5 kg abgenommen, zumindest wenn ich der Waage glauben schenken konnte. Enttäuschender Weise konnte ich noch keinen großen Unterschied feststellen, aber im Internet hatte ich gelesen, dass der Körper erst Wassereinlagerungen abbaute und dann ans Fett ging. Also konnte es ja nicht mehr allzu lange dauern, bis ich endlich Unterschiede sah. Zwar konnte es meinetwegen nicht schnell genug gehen, doch ich musste mich eben wohl oder übel gedulden.
„Olivia, Essen ist fertig!", ertönte die Stimme meiner Mum. „Moment!", antwortete ich und suchte mein Zimmer nach meiner Lieblingsjogginghose ab. Als mir schließlich einfiel, dass ich diese heute Morgen in die Wäsche geschmissen hatte, tappte ich zu meinem Kleiderschrank und fand eine etwas ältere, graue Jogginghose. Das letzte Mal als ich diese Hose anhatte, war sie mir am Bauch etwas zu eng geworden und dieses Gefühl wollte ich so schnell wie möglich wieder loswerden, weshalb ich sie in die hinterste Ecke des Schranks verbannt hatte. Allerdings war das gewesen, bevor ich anfing abzunehmen. Vielleicht würde sie mir jetzt ja wieder passen. Und falls nicht? War dann alles umsonst gewesen? Ich wüsste nicht, wie ich das verkraften würde. Doch meine Neugier gewann. Sollte sie mir immer noch nicht wieder passen, müsste ich eben noch mehr Sit Ups in meinen Workout-Plan miteinbeziehen. Außerdem könnte ich es als Motivation sehen. Aufgeregt schlüpfte ich in die Hose und - sie passte! Tatsächlich saß sie wieder wie angegossen. Ein Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus und ich hüpfte vor Freude einmal durchs ganze Zimmer. Die ganze Mühe fing also endlich an sich zu lohnen und die abgesagte Geburtstagsparty war es das auch wert. Sobald ich mein Wunschgewicht erreicht haben würde, könnte ich auf so viele Geburtstagsfeiern gehen wie ich wollte.
„Olivia?", Mum rief schon wieder nach mir. „Ich komme!", hastig verließ ich mein Zimmer, aber bevor ich die Treppe hinunterging, hielt ich inne. Eigentlich hatte ich keinen großen Hunger und da ich heute morgen schon nichts abgenommen hatte, sollte ich das Abendessen besser ausfallen lassen und stattdessen nur einen Tee trinken. Ich hatte ja auch den Geburtstag ausfallen lassen, wegen meiner "Grippe", also könnte ich die gleiche Ausrede auch bei meiner Mum versuchen.
Also schlurfte ich die Treppe langsam hinunter um schläfrig zu wirken und tapste in die Küche. Dort saß meine Familie - meine Eltern und meine beiden Schwestern, eine Größere und eine Kleinere - schon am Esstisch und aßen Nudeln mit Käsesahnesoße. Der Geruch ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen und dass es ausgerechnet noch eines meiner Lieblingsgerichte war, machte das Ganze nicht gerade leichter. Doch ich war stärker als meine Lust nach diesem ungesunden Essen und ich rief mir das Gefühl zurück ins Gedächtnis, als ich wieder in meine Hose gepasst hatte. „Mum, irgendwie fühle ich mich total krank.", ich lehnte mich gegen den Türrahmen und sah meine Mum traurig an. „Ich hab auch bei Katy abgesagt.." Mitleidig sah meine Familie mich an: „Was genau hast du denn?", fragte mein Dad mich und ich sagte, dass ich mich einfach total schlapp fühlte und mir etwas schlecht sei. „ Bei Übelkeit ist das natürlich nicht das richtige Essen.", meine Mum erhob sich von ihrem Platz und kam auf mich zu. „Fieber hast du aber keines, oder?", sie legte eine Hand auf meine Stirn und schüttelte dann den Kopf: „Okay, dann leg dich ins Bett, Schatz. Ich mach dir noch eine Tee und bring dir Medikamente und was Knäckebrot mit hoch." Dankbar nickte ich und machte mich dann auf den Weg hoch in mein Zimmer. Ich schaltete den Fernseher ein und kuschelte mich in mein Bett.
Mein Handy blinkte, was mir anzeigte, dass ich eine Nachricht hatte und ich entsperrte es. Sie war von Katy:
„oh nein, süße :( ich will meinen gebbi aber nicht ohne dich feiern... gute besserung! vermisse dich jetzt schon, hab dich lieb :* "
Kurz kam mein schlechtes Gewissen auf, doch ich ignorierte es, so gut es ging. Lieber konzentrierte ich mich auf die Dinge, die grade gut liefen und freute mich darauf, dass morgen früh hoffentlich eine andere Zahl auf der Waage stand.
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Zwischen Tag und Nacht || anorexia nervosa
Teen Fiction„Du müsstest jemanden sehr hassen, um ihn verhungern zu lassen." Sein Blick traf mich so plötzlich und brannte sich so tief in mein Gedächtnis ein, sodass ich nicht anders konnte, als ihm auszuweichen und auf den Boden zu starren. Schon wieder brann...