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„Olivia, du hast dich doch nicht wirklich geritzt oder?"
„Nein."
„Und wie kommen Mrs Bell und die Mädchen dann darauf?"
Ich zuckte mit den Schultern.
„Olivia, lüg mich nicht an!"
„Okay, vielleicht ist es doch ein Mal passiert..."
Rumgeschreie.
„Und jetzt hör auf, die ganze Zeit nur in deinem Essen rumzustochern! Du wirst erst aufstehen, wenn der Teller leer ist!"
Zersplitterndes Porzellan, Sauerei, bloß nicht die Kontrolle verlieren.

Bei dem Gedanken an dieses Desaster von heute Nachmittag traten erneut Tränen in meine Augen. Wütend blinzelte ich sie weg, denn geweint hatte ich heute wirklich schon genug. Nachdem der Teller zu Bruch gegangen war, hatte meine Mutter sich wirklich nicht mehr zügeln können und die gesamte Anspannung der letzten Monate war mit einem Mal aus ihr herausgebrochen. Sie hatte mich angeschrien, beschimpft und geweint. Ob mir das in irgendeiner Weise hatte helfen sollen? Ich glaube kaum. Wahrscheinlich hatte dies wohl eher ihr selbst helfen sollen.

Du machst die Familie kaputt...

Ein Satz, der mir nicht mehr aus dem Kopf ging. Stimmte es? Zerstörte ich unsere Familie, die eigentlich nie Probleme hatte? War ich ein Fehler im System? Erneut brannte es verdächtig hinter meinen Augen, weshalb ich den Gedanken schnell aus meinem Kopf löschte. Ein Blick auf mein Handy sagte mir, dass es mittlerweile schon nach Mitternacht war, um genau zu sein 0:21, am 29. September und meine Eltern somit hoffentlich endlich im Bett lagen. Irgendwann während Mums Wutausbruch war ich einfach aufgestanden und in mein Zimmer gegangen, welches ich seitdem nicht mehr verlassen hatte. Zwar hatten meine Eltern noch ein paar Mal nach mir gesehen, doch dann hatte ich mich immer schlafend gestellt. Eine weitere Konfrontation konnte ich nicht ertragen.

Meine Kehle war vom ganzen Weinen wie ausgetrocknet, also schlich ich mich leise aus meinem Zimmer in den Flur, mit dem Ziel, mir etwas zu trinken zu besorgen. Gerade als ich die Treppe hinunter gehen wollte, stockte ich - ich hörte Stimmen aus der Küche.

„So kann es nicht weiter gehen, Susan...sie braucht professionelle Hilfe, das müssen wir einsehen.", die Stimme meines Vaters. Ein Aufschluchzen war zu hören, vermutlich kam dies von meiner Mutter. Eine Gänsehaut lief über meinen ganzen Körper. Ich hasste es, meine Mutter weinen zu hören. „Aber sie ist doch mein kleines Mädchen, mein kleines, gesundes Mädchen... Livy war doch immer die, um die wir uns am wenigsten sorgen mussten...", murmelte meine Mum. Daraufhin hörte ich Stühle rücken und gedämpftes Schluchzen, vermutlich hatte mein Dad meine Mum in den Arm genommen und tröstete sie.

Professionelle Hilfe? Mein Herz begann zu rasen. Wollten sie mich einweisen lassen? Zu einem Therapeuten bringen? Ins Krankenhaus? Aber das war doch vollkommen übertrieben! Mir ging es gut.

Diesen Satz hatte ich mir nun schon so oft gesagt, dass ich langsam begann, ihn zu glauben.

Mrs Bell hat uns doch auch geraten, einen Arzt aufzusuchen und ich halte das für eine sehr vernünftige Idee. Am Besten direkt morgen, wir dürfen nicht noch länger abwarten und hoffen, dass es von selbst wieder besser wird. An diesem Punkt sind wir leider längst vorbei...", mein Vater seufzte und meine Mutter schluchzte weiter gedämpft in sein Hemd.

Mir war oben auf meinem Lauschposten auf einmal ganz kalt geworden. Schon morgen sollte ich zu einem Arzt? Morgen?! Mein Herz raste erneut, meine Atmung wurde immer schneller und die Tränen, die letztendlich doch kamen, waren nicht mehr aufzuhalten. Die Luft im Haus war mir auf einmal viel zu stickig, doch raus konnte ich auch nicht, wegen meiner Eltern, also stürzte ich zurück in mein Zimmer und dort zu meinem Fenster. Panisch riss ich es auf. Erst nachdem mein Zimmer durchflutet von der kalten Nachtluft war, konnte ich wieder richtig atmen. Zusammengekauert saß ich im Mondenschein, das weiße Licht reichte nicht bis in alle Ecken des dunklen Raums. Und obwohl ich fror, was jedoch nichts mehr Neues für mich war, fühlte ich mich doch verstanden. Irgendjemand auf dieser Welt machte gerade das Gleiche durch oder verspürte zumindest ein ähnliches Gefühl. Und das spendete mir Trost. Der Mond, dessen Strahlen mich an frischen, glitzernden Schnee erinnerten, spendete mir Trost.

Zwischen Tag und Nacht || anorexia nervosaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt