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54,8 kg, 25, Juli
Endlich ertönte die Schulklingel, die mich und meine Freundinnen in die Mittagspause entließ. Rasch packten wir alles in unsere Ränzen und liefen los zur Mensa, damit wir an unseren Lieblingstisch am Fenster konnten. Glücklicherweise war noch nicht so viel los und meine Freundinnen stellten ihre Rucksäcke ab, um sich die Plätze zu reservieren und sich an der Essensausgabe anzustellen. Ich hingegen ließ mich auf meinen Stammplatz nieder. Verwirrt sah Katy mich an: „Willst du nichts essen?" „Doch doch, ich hab heute was von zuhause dabei." Die Verwirrung in Katys Gesicht war zwar noch nicht vollkommen verschwunden, doch scheinbar kam ihr der Gedanke nun eher absurd anstatt besorgniserregend vor: „Seid wann ist deine Mum denn eine so gute Köchin, dass du sie dem herrlichen Kantinenfraß bevorzugst?" Ich grinste nur: „Ich glaube, meine Mum hatte einfach genug von dem Gejammer über das Essen hier." „Verständlich.", auch Katy grinste und lief dann zu den anderen, die sich bereits angestellt hatten.

Schon wieder eine Lüge. Normalerweise hatten Katy und ich keine Geheimnisse voreinander. Das war schon seit dem Kindergarten so und es fühlte sich gar nicht gut an, daran jetzt was zu ändern. Andererseits wusste ich, was Katy von Diäten, Abnehmen und dem ganzen Kram hielt - nämlich gar nichts. Sie vertrat die Meinung, dass jeder sich so akzeptieren und lieben sollte, wie er ist und wenn man etwas ändern wollte, sollte man das erstmal mit Sport versuchen anstatt mit kompletter Ernährungsumstellung. Normalerweise stimmte ich ihr in dieser Hinsicht zu, doch ich hatte mich einfach nicht mehr so wohl wie früher in meinem Körper gefühlt und gegen ein paar Kilos war ja auch nichts einzuwenden. Mein erstes Ziel, die 55 kg, hatte ich ja bereits geknackt und viel tiefer runter wollte ich eh nicht gehen. Nur noch aus Haut und Knochen wollte ich ja auch nicht bestehen.

Während ich über das alles nachdachte, packte ich meinen selbstzusammengestellten Salat und mein selbst gemachtes Dressing aus. Ich tat etwas Dressing in den Salat und vermischte alles, als meine Freundinnen zurück kamen. „Du isst Salat am Pommes-Dienstag?", fragte Karina mich ungläubig und ließ sich auf dem Stuhl neben mir nieder. Auch meine anderen Freundinnen, Alisa, Berit und Charlotte, runzelten die Stirn beim Anblick meines kläglichen Salats. Katy ließ sich wortlos mir gegenüber nieder und wartete neugierig meine Reaktion ab: „Meine Mum hat mir den gestern gemacht und ich wollte ihn nicht wegschmeißen.. dafür gibt's heute Abend bei uns Pizza!" Schon wieder eine Lüge. Scheinbar reichte es ihnen aber als Erklärung, denn sie alle fingen an zu Essen. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, dass Katy mich einen Moment zu lange angesehen hatte, doch als ich von meinem Essen aufsah, sah sie längst woanders hin.

Der Nachmittag zog sich ewig in die Länge und dann auch noch Geschichte in den letzten beiden Stunden zu haben, machte die Sache auch nicht besser. Mein Blick wanderte zum wiederholten Mal zur Uhr, deren Zeiger sich einfach nicht weiter bewegen wollten. Auch Katy neben mir stöhnte und fuhr sich genervt durch die hellbraunen leicht gelockten Haare, bis sie weiter irgendetwas auf ein Blatt kritzelte. In Gedanken ging ich nochmal durch, was ich noch alles zu tun hatte, wenn ich aus der Schule kam: Hausaufgaben, ein bisschen Lernen, Sport. Das war zu schaffen. Seit ich mit dem Abnehmen begonnen hatte blieb zwar kaum Zeit für andere Dinge, die mir wirklich Spaß bereiteten, aber da musste ich jetzt eben durch. Wie viel hatte ich heute bereits gegessen? Wenn ich richtig gerechnet hatte, war ich jetzt bei etwa...

„Pssht.", Katy stupste mich an und ich sah nach unten auf ihre ausgestreckte Hand: Sie hielt mir einen Kinderriegel hin. „Von Charly.", sie deutete auf Charlotte, die schon zufrieden am Kauen war und uns angrinste. Auch Alisa und Berit waren scheinbar von ihr versorgt worden. Überfordert starrte ich den Schokoriegel an. Sollte ich den jetzt essen, war mein ganzer Essensplan, den ich mir für heute gemacht hatte, durcheinander. Andererseits bemerkte ich den misstrauischen Blick meiner besten Freundin auf mir und ich wollte nicht, dass ihr Misstrauen weiter anwuchs. Also griff ich nach dem Riegel, auch wenn sich innerlich alles dagegen sträubte und grinste Katy an: „Das ist jetzt meine Rettung."

Ohne, dass der Lehrer etwas mitbekam, zeigte ich erst Charly einen Daumen hoch als Dankeschön und packte dann den Kinderriegel unter dem Tisch aus. Katy hatte schon fast die Hälfte gegessen, als ich mir das erste Stück in den Mund schob. Als sich der süße Geschmack auf meiner Zunge ausbreitete, fiel mir auf, wie lange ich schon ohne Schokolade ausgekommen war. Natürlich liebte ich Schokolade, aber ich brauchte sie nicht in meinem Leben. Dafür war mir das Gefühl, wenn die Waage wieder etwas runtergegangen war, zu wertvoll. Erschrocken von meinen eigenen Gedanken schüttelte ich nur schnell meinen Kopf, um sie so schnell wie möglich wieder zu vertreiben.

„Alles okay?", Katy sah mich aus ihren großen blauen Augen an und schob sich ihr letztes Stück Schokolade in den Mund. Ich nickte nur und aß ebenfalls ein weiteres Stück. Meine beste Freundin drehte ihren Kopf wieder Richtung Tafel und ich betrachtete sie von der Seite. Auch wenn ich es mir nie vor ihr eingestehen würde: Ich war schon etwas neidisch auf sie. Sie hatte funkelnde blaue Augen, ein süßes Gesicht und hellbraune Haare, die genau die richtige Stufe zwischen glatt und lockig hatten. Ihre Figur könnte der Traum eines jeden Mädchens sein, mit den langen dünnen Beinen, dem flachen Bauch und den schmalen Schultern.. Stopp! Nicht schon wieder diese Negativ-Spirale! In letzter Zeit war es immer öfter vorgekommen, dass sich meine Gedanken selbstständig in so eine Richtung bewegten, die mir gar nicht gut tat. Meistens war das nachts wenn ich allein in meinem Bett lag und ich die Tränen, die darauf oft folgten, einfach rollen lassen konnte. Aber doch nicht in der Schule! Doch was einmal angefangen hatte, ließ sich selten wieder aufhalten. „Ich muss mal kurz auf Klo.", mit diesen Worten verließ ich schnell den Klassenraum, den noch nichtmal halb aufgegessenen Schokoriegel in meinem Ärmel versteckt.

In der Mädchentoilette versank ich den Riegel im Klo und spülte ihn angewidert runter - nur das war jetzt der Grund gewesen, warum ich gerade fast die Kontrolle verloren hatte. Ich ging zu den Waschbecken und spritzte mir etwas kaltes Wasser ins Gesicht, dann starrte ich mein Spiegelbild an. Unter meinen matten braunen Augen hatten sich Ringe gebildet, welche ich immer schwerer unter Concealer verstecken konnte und meine braunen langen Haare hingen matt herunter. Das kann nicht gut sein, Olivia, sagte eine Stimme in mir, es reicht so langsam. Doch jetzt konnte ich nicht aufgeben, so kurz vor meinem Ziel. „Du hälst das jetzt durch, du kannst das schaffen! Du bist stark." Erst später wusste ich, das ich zu diesem Zeitpunkt bereits lange nicht mehr einfach aufhören hätte können.

Zwischen Tag und Nacht || anorexia nervosaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt