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Gewicht unbekannt - Montag, 02. Oktober

Der Sonntag war die reinste Hölle gewesen. Nachdem meine Familie so positiv von mir überrascht gewesen war, traf es sie umso mehr als ich sonntags wieder so wie immer war - nur schlimmer. Nachdem ich mir höchstwahrscheinlich alle Kilos, die ich jemals verloren hatte, wieder angefressen hatte, brachte ich es nicht über mich, am Sonntag auch nur einen Bissen zu mir zu nehmen. Stattdessen lag ich den ganzen Tag im Bett, ignorierte meine Familie, sogar dann, als Elena wieder weinte und meine Mutter mich anschrie und fühlte mich elend.

Obwohl ich den ganzen Tag also wirklich rein gar nichts getan und ich mich vor lauter Scham noch nichtmal auf die Waage getraut hatte, schlief ich trotzdem früh ein. Einen ganzen Tag alleine meinen Gedanken ausgesetzt zu sein war anstrengend genug.

„Aufstehen.", meine Mutter war in mein Zimmer gekommen und schob meine Vorhänge bei Seite. „Um 10 fahren wir los.", so schnell wie sie hereingeplatzt war, war sie auch wieder gegangen. Fast so als würde sie vor mir fliehen. Aber verübeln konnte ich es ihr nicht.

Mit noch müden Augen blickte ich rüber zu meinem Wecker, welcher mit leuchtenden Ziffern die Uhrzeit 08:02 anzeigte. Noch zwei Stunden. Sofort war ich hellwach und mein Puls beschleunigte sich. Heute war der Termin mit dem Psychologen, welcher mich wahrscheinlich sofort für verrückt erklärte und dort behielt.   Das darfst du nicht zulassen...

Langsam setzte ich mich auf. Zu schnell durfte ich das nicht machen, denn sonst würde mir sofort schwarz vor Augen werden und das mittlerweile altbekannte Schwindelgefühl würde einsetzen. Noch immer im Bett sitzend warf ich einen Blick in den Spiegel. Ich erschrak nicht mehr, wenn ich diese Gestalt erblickte. Es war normal für mich geworden, so auszusehen. Meine Haare, die schon ewig nicht mehr so voll und glänzend waren wie einst, standen wirr vom Kopf ab und nur noch eine Dusche konnten retten, was zu retten war.
Als ich mich also sicher genug fühlte, stellte ich meine Füße, die in Wollsocken steckten, ab und stand auf. Dabei rutschte mir meine Schlafanzughose fast über die Hüften, doch ich schenkte dem keine Beachtung.

Wiegen oder nicht? Planlos starrte ich die Waage an. Innerlich fühlte ich mich immer noch nach mehr an als normalerweise, doch das konnte natürlich auch eine Täuschung sein. Würde ich ertragen können, wenn auf der Waage eine höhere Zahl steht? Nein, nein und nochmals nein!

Schon allein der Gedanke machte mich verrückt, weshalb ich mich dagegen entschied. Wiegen konnte ich mich auch morgen wieder und Ungewissheit war mir gerade tatsächlich lieber als eine Zunahme. Also tappte ich in den Flur. Dabei fiel mein Blick auf das Zimmer meiner Schwester, dessen Tür offen stand. Vorsichtig lugte ich hinein, doch natürlich war niemand hier. Es sah so unbewohnt aus wie immer unter der Woche, denn sie kam ja nur am Wochenende heim. Sie hatte mir nicht einmal Tschüss gesagt...

Ich schluckte und schloss dann Elenas Tür hinter mir, während ich meine Gedanken an sie vertrieb und meine Weg ins Bad fortsetzte.

Zwei Stunden später saß ich auf der Rückbank unseres Autos, einen wärmenden Becher Tee in den Händen, eine Brotdose neben mir. Den Tee hatte ich mir selber gemacht, die Brotdose hatte meine Mutter mir zusammengestellt und mir mit den Worten „Du isst das auf der Fahrt. Keine Widerrede." in die Hand gedrückt. Dabei hatten ihre Augen verdächtig geglänzt, wobei ich mir das auch nur eingebildet haben konnte. Jetzt starrte sie wieder wortlos aus dem Fenster und wagte es nicht, auch nur einen Blick nach hinten zu werfen. Mir fiel auf, dass sie ihre Haare zum ersten Mal seit langer Zeit wieder gemacht hatte. Früher war sie immer  top gestylt gewesen, doch seit einiger Zeit hatten ihre braunen Haare nur matt heruntergehangen oder in einem unordentlichen Knoten gesteckt.

Meine braunen Haare hatte ich von ihr, denn mein Dad hatte dunkelblonde Haare gehabt, die mittlerweile gräulich schimmerten. Von ihm stammten die Haare meiner beiden Schwestern ab: Tessa mit ihren hellblonden Haaren, die auch Elena früher gehabt hatte, bis sie mit der Zeit dunkelblond geworden waren. Eigentlich dachte ich immer, ich und meine Mum hätten eine besondere Bindung, aber so kalt wie sie dort vor mir saß, so kannte ich sie nicht. Und sie mich nicht mehr.

Zwischen Tag und Nacht || anorexia nervosaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt