47 kg, 14. September
Seit meinem Streit mit Katy hatte ich kaum noch mit ihr oder meinen anderen Freundinnen geredet. Zwar stand ich in den Pausen noch bei ihnen, doch ich hatte keine Kraft, mich an ihren Gesprächen über irgendwelche Typen zu beteiligen. Gedanklich war ich lieber bei der Zahl auf der Waage, wie ich möglichst nichts zu mir nehmen könnte und wie ich es schaffte, dass meine Eltern nichts davon bemerkten. In der Mittagspause floh ich meistens in die Bibliothek um Stoff zu wiederholen, denn so konnte ich erstens dem Essen entfliehen und zweitens wollte ich meine Leistungen oben halten. Manchmal hielt ich es allerdings gar nicht mehr im Schulgebäude aus, weshalb ich dann eine Runde spazieren ging.
Natürlich fanden meine Freundinnen mein Verhalten komisch. Natürlich sorgten sie sich irgendwo um mich. Doch bald würde alles wieder normal werden, wenn ich nur noch ein bisschen so weitermachte, könnte ich gedankenlos alles essen was ich wollte.
Ich war gerade wieder über eines meiner Bücher gebeugt und wollte die Mittagspause in der angenehmen Stille der Bibliothek verbringen, da setzte sich auf einmal jemand neben mich. Erschrocken sah ich auf. Es war Mrs Bell.
„Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.", freundlich wie immer lächelte sie mich an und ich versuchte, so gut wie möglich zurück zu lächeln.
„Wieso verbringst du deine Mittagspause denn alleine hier und nicht bei deinen Freundinnen?", ihr freundliches Lächeln wich einem Blick voller Sorge. Fieberhaft überlegte ich mir eine Ausrede, die für sie ausreichen würde, doch mir fiel nicht wirklich etwas Glaubhaftes ein. „Nun ja, ich .. ich wollte meine Noten wieder aufbessern. Sie hatten ja gesagt, dass meine Leistungen etwas nachgelassen haben und..", die Ausrede war dämlich, da ich eine sehr gute Schülerin war, doch etwas Besseres war mir beim besten Willen nicht eingefallen.
Mrs. Bell seufzte nur: „So hatte ich das damals nicht gemeint, als ich zu dir meinte, dass mir aufgefallen sei, dass du in letzter Zeit ruhiger geworden bist." Auf einmal tat es mir Leid, was ich gesagt hatte. Ich wollte nicht, dass Mrs Bell dachte, sie sei der Grund für meine Isolation.
„Nein, das war nicht wegen dem, was sie gesagt haben. Ich dachte nur, es würde mir gut tun, nochmal etwas Stoff zu wiederholen.", versuchte ich mich raus zu reden.
„Hör zu, ich habe schonmal ein Mädchen wie dich in eine meiner Klassen gehabt. Und ich bin mir nicht sicher, ob du den Ernst der Lage verstehst. Essstörungen sind kein Spaß und nichts, was man auf die leichte Schulter nehmen sollte, Olivia. Du musst dir Hilfe suchen."
Essstörung? Ich hatte doch keine Essstörung.. oder ? Bedrückt starrte ich auf den Tisch, unwissend was ich darauf erwidern sollte. „Olivia, ich sehe doch, wie schlecht es dir geht. Du bist viel zu dünn für ein Mädchen deines Alters und deiner Größe. Wissen deine Eltern davon? Sonst kann ich gerne mit ihnen darüber reden.", Mrs Bells Blick war aufrichtig und ich war ihr in diesem Moment so unendlich dankbar, doch konnte ich ihre Hilfe nicht annehmen.
„Es ist wirklich nett, dass sie sich so um mich sorgen. Aber ich habe keine Essstörung, das.. nein, es geht mir wirklich gut. Wirklich.", ich warf einen Blick auf die Uhr, „Es klingelt ja schon bald! Dabei wollte ich noch zum Kiosk.. ich sollte wirklich gehen." Hektisch packte ich meine Schulsachen ein.
„Olivia, du musst dich nicht so hetzen. Wir haben doch danach Englisch zusammen und ich würde gerne mit dir genauer darüber reden.", Mrs Bell stand auf, da ich ebenfalls bereits stand und meine Tasche schulterte.
„Ich wüsste nicht, was es noch zu besprechen gibt. Außerdem will ich ihnen nicht ihre Pause klauen, bis später!", ich wandte mich ab und verließ mit schnellen Schritten die Bibliothek, um daraufhin auf die Mädchentoilette zu rennen. Mit zittrigen Händen schloss ich mich in einer Kabine ein.
Wie kam sie darauf, dass ich eine Essstörung hatte? Hatte ich eine Essstörung? Ich kaute auf meiner Unterlippe herum. Ich würde lügen, würde ich behaupten, dass ich mir diese Frage nicht auch schonmal gestellt hatte. Aber dass auch andere Personen darüber nachdachten? Musste man für Magersucht zum Beispiel nicht extrem dünn sein?
Ich holte mein Handy aus meiner Tasche und googelte das Wort Essstörung. Sofort poppten unzählige Seiten von Kliniken, Selbsttests und vieles mehr auf. Mein Interesse lag aber besonders auf dem Aussehen, weshalb ich auf Bilder tippte. Sofort erschienen Bilder von unzähligen sehr dünnen Mädchen und abgehungerten Körpern. Mein Blick wanderte an meinem eigenen Körper hinunter und ich schüttelte den Kopf. Nein, so sah ich nicht aus. Ich konnte nicht essgestört sein.
Es klingelte zum Unterricht, doch ich konnte nicht zurück, nicht in dieser psychischen Verfassung, in der ich gerade war. Ich scrollte weiter runter und kam zu einem Selbsttest. Natürlich konnte man nicht viel auf solche Tests geben, doch interessieren würde es mich dennoch.
Das Ergebnis lautete: Sie haben ein anorektisches Verhalten, bitte suchen sie einen Arzt auf.
Das konnte nicht sein. Wie konnte ich ein anorektisches Verhalten haben, wenn ich noch so aussah? Wie sollte ich mir so helfen lassen? Kein Arzt dieser Erde würde mich so Ernst nehmen!
Das leuchtende Handy vor mir verschwamm und heiße Tränen liefen meine Wangen hinab. Ich sank auf den Boden der Kabine zusammen und weinte. Umso länger ich weinte, umso klarer wurde mir bewusst: Ich saß in der Falle.
Irgendetwas stimmte mit mir ganz und gar nicht, vielleicht hatte ich tatsächlich eine Störung. Und auch wenn es mir in den letzten Monaten so unbeschreiblich schlecht ging, konnte ich mir nicht helfen lassen. Ich hatte es nicht verdient, jegliche Hilfe anzunehmen. Meine Situation kam mir unlösbar vor.
„Olivia? Bist du hier drin?", die Tür zur Mädchentoilette ging auf und Katys Stimme ertönte. Ich hielt den Atem an, doch es machte keinen Sinn, sich weiter zu verstecken.
„Hier.", krächzte ich und erhob mich langsam. Zögerlich schloss ich die Kabinentür auf und direkt davor stand Katy. Als sie mich erblickte, weiteten sich ihre Augen: „Oh Gott, Livy, was ist denn los?" Erklären konnte ich es ihr nicht, es ging einfach nicht. Ich war nur in der Lage, den Kopf zu schütteln.
So wie früher schloss Katy mich einfach in ihre Arme und ich lehnte mich an sie, erlaubte es mir, meine Emotionen zuzulassen und mich nicht vor Katy zu verstecken. So standen wir eine gefühlte halbe Ewigkeit da und sagten nichts, doch ich hatte dennoch das Gefühl, dass sich unser Konflikt in Luft aufgelöst hatte.
„Danke für alles, Katy.", flüsterte ich, doch sie löste sich aus der Umarmung und sah mich an. Ihre Augen glänzten verdächtig: „Das klingt wie ein Abschied, Livy."
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Zwischen Tag und Nacht || anorexia nervosa
Teen Fiction„Du müsstest jemanden sehr hassen, um ihn verhungern zu lassen." Sein Blick traf mich so plötzlich und brannte sich so tief in mein Gedächtnis ein, sodass ich nicht anders konnte, als ihm auszuweichen und auf den Boden zu starren. Schon wieder brann...