Harry POV:
"Tschüßi Harry!", rief Louis' Mutter noch und winkte mir mit weitausgeholten Bewegungen zu. Ich grinste sie noch an, bevor mein Blick auf Louis fiel. Er verdrehte die Augen über seine Mum, doch lächelte mir zu. "Bis Morgen, Harry."
Ich setzte mich mit meinen Krücken in Bewegung. Mit erschöpften Armmuskeln erreichte ich schließlich die nächste Bushaltestelle und betrachtete den Fahrplan. Ich hatte Glück, in gut zehn Minuten hielt hier der Bus, der dank der geringen Einwohnerzahl unseres Dorfes nur stündlich fuhr. Seufzend ließ ich mich auf einen dieser unbequemen Platikstühle fallen und legte die Krücken neben mich.
Eine knappe halbe Stunde später hielt der Bus wenige Minuten von meinem Zuhause entfernt und ich stieg aus, die Krücken noch immer stützend in meinen Händen. An unserem Haus angekommen, holte ich meine Schlüssel hervor, darauf gefasst gleich von einem vierjährigem Mädchen über den Haufen gerannt zu werden. Und tatsächlich kam keine zehn Sekunden später Nathalie auf mich zugerannt. "Harry, du bist wieder da! Kannst du gleich nach dem Essen mit mir 'Vater, Mutter, Kind' spielen? Ich bin die Mutter, du der Vater und Puppi das Kind!" Erschöpft schloss ich die Haustür hinter mir. "Langsam, Süße. Lass mich doch bitte erstmal ankommen und dann kochen, okay?" Der blonde Lockenkopf nickte und verschwand in ihrem und Victorias Zimmer, während ich meine Jacke und Schuhe auszog. Ich liebte meine Geschwister, ich tat es wirklich, doch manchmal wurde mir einfach alles zu viel. Vorallem im Moment, wo auch noch die Sache mit meinem kaputten Fuß und die Arbeit bei Louis hinzukam, fehlte mir einfach ein wenig Zeit für mich selbst. Nicht, dass ich mich beschweren würde, ich war selten so glücklich gewesen wie jetzt. Ich hatte mit Louis nicht nur einen neuen Arbeitsgeber gefunden, sondern jemanden, bei dem ich mich wohl fühlte, mit dem ich Spaß hatte und den ich nie wieder verlieren wollte. Eigentlich war es eh ein Witz, dass ich dafür sogar noch bezahlt wurde und das nicht gerade wenig. Außer dem Zeitaufwand brachte ich nicht viele Opfer für diesen Job, sodass ich mich beinahe schämte, dafür noch Geld zu verlangen. Aber wer bin ich, um zu einem einfacheren Leben mit genügend Einkommen 'Nein' zu sagen?
"Victoria, Nathalie, Tisch decken!", rief ich nach meinen Schwestern, bevor ich die Nudelsoße noch einmal abschmeckte. Kurz darauf kam ein Mädchen angerannt, das anderen schleppte sich entnervt auf ihren Küchenstuhl. "Victoria, du kannst auch was machen, hol mal bitte Wasser", forderte ich sie auf, was sie mit einem übertriebenem Augenrollen quittierte. Entgeistert sah ich sie an. So etwas machte sie sonst nie! Klar, sie war in einem pubertierendem Alter, aber normalerweise verhielt sie sich trotzdem wohlerzogen und keineswegs so frech. Ich ignorierte es, aus dem einfachen Grund, dass ich nicht für ihre Erziehung verantwortlich war und ich außerdem gerade echt nicht die Nerven für einen Streit hatte.
Das Essen verlief weitestgehend stillschweigend, abgesehen von einigen Geschichten, mit denen Nathalie versuchte uns zu unterhalten. Irgendwie schaffte ich es anschließend noch das Geschirr abzuspülen, trotz dem verletzten Fuß und der extremen Müdigkeit, die auf mir lastete. Danach brachte ich meine Schwestern zu Bett, wobei ich von der Älteren nur angezickt wurde, dass sie doch kein Kleinkind mehr sei. Gegen 10 Uhr kam schließlich Mum heim und ich tauschte mich noch kurz mit ihr über den beinahe abgeschlossenen Tag aus, bevor ich mich endlich in mein Bett fallen lassen konnte.
Meine Augen schlossen sich fast noch zu selben Sekunde, doch der Schlaf holte mich erst viel später ein. Stattdessen hing ich nur einem Gedanken nach: Wieso hatte Louis so seltsam reagiert, als ich ihn auf seine Geschwister angesprochen hatte?
Klar, vielleicht hatte er es sich einfach immer welche gewünscht und war deshalb traurig, aber ich glaubte, dass mehr dahintersteckte. Für mich blieben nur zwei Möglichkeiten übrig; Entweder er hatte eben doch einen Bruder oder eine Schwester, nur hatte er kein gutes Verhältnis zu ihm oder ihr und wollte deshalb nicht darüber reden. Oder aber, er hat seine Geschwister verloren.
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Ich bremse auch für Fußgänger | Larry
RomanceDie Räder seines Rollstuhls drehten sich beinahe lautlos auf dem glatten Steinboden, hinterließen feine Streifen und ein leises, quietschendes Geräusch. Manchmal dachte er sich, dass diese Räder wie sein Leben waren, eintönig und scheinbar endlos. A...