Louis POV:
Ich hatte den Weg von Harry zu meinem Zuhause hinter mich gebracht, weinend und kraftlos. Mit verschwommener Sicht nahm ich die Türklingel vor mir wahr und drückte meine zittrigen Finger auf den kleinen Knopf. Die Überwachungskameras wurden auf mich geschwenkt, doch ich schenkte ihnen keine Beachtung. Ich hatte mich schon immer gefragt, wofür sie genau da waren, immerhin war mein Vater nicht wirklich eine Berühmtheit. Wahrscheinlich war es für ihn eher ein Statussymbol.
Nach einer knappen Minute öffnete sich das Tor und ich schob mich langsam in unsere Einfahrt. Noch bevor ich die Haustür erreichen konnte, öffnete sie sich schwungvoll und meine Mutter kam aus dem Haus hinaus gestürmt. „Louis! Mein Kleiner, ich habe mir Sorgen gemacht, wo warst du denn?" Ich wollte mich sie ignorierend an ihr vorbeischieben, doch sie stoppte mich, indem sie mit festen Griff meinen Rollstuhl festhielt. „Hier geblieben, der Herr! Du sagst mir jetzt auf der Stelle, wo du warst!", sie klang wütend, doch als ich in ihre Augen blickte, sah ich, wie traurig und besorgt sie in Wirklichkeit war. „Mama", murmelte ich leise und wieder stiegen mir Tränen in die Augen. Meine Mutter wirkt jetzt noch sorgenvoller, als sie sich langsam vor mich hinkniete. „Hey, mein Schatz, schau mich an", flüsterte sie und strich mir mit ihrem Daumen die Tränen von der Wange, „Willst du mir vielleicht erzählen, was passiert ist?" Ihr Blick ruhte auf meinen Augen, die ich immer wieder kurz schloss, um weitere Tränen vom Hinunterlaufen abzuhalten. „Harry", schluchzte ich schließlich mit gebrochener Stimme und streckte dabei meine Arme in die Richtung der Frau vor mir aus. Sie schien sofort zu verstehen, denn sie nahm mich liebevoll in ihren Arm und drückte mich an sie. Ich fühlte mich so klein und verletzlich, als ich mich in ihre Umarmung lehnte und weiterhin leise schluchzte. „Was ist mit Harry?" Auf die Frage hin fuhr ein Zittern durch meinen Körper. „Er k-kennt mich nicht mehr."
Meine Mutter wollte gerade antworten, als das Klicken der Haustüre uns aufschrecken ließ. Während Mama ihren Kopf hob, um zu sehen, wer das Haus betreten hatte, verharrte ich in meiner Position. Doch auch so wusste ich nur einen Moment später, dass mein Vater hier war. Seine tiefe, dominante Stimme grüßte uns mit einem kalten „Hallo, Marie und Louis." Ich hörte schon, wie sich seine Schritte wieder etwas entfernten, als ich ihn zurückrief. „Dad! Was hast du mit Harry gemacht?", rief ich lauthals, sodass meine Mutter kurz zusammenzuckte und sich vorsichtig aus meinen Armen löste. Ich wandte meinen Blick nun zu meinem Vater und er starrte zurück. „Was meinst du, mein Sohn?", fragte er gelassen, ein selbstgefälliges Grinsen auf den Lippen. „Das weißt du ganz genau", schrie ich noch lauter, während ich mich zu ihm schob. „Woah, ganz ruhig", er grinste jetzt nicht mehr, stattdessen sah er mich herablassend an, „Ich habe keine Ahnung, was mit deinem Harry passiert ist." Wütend ballte ich meine Hände zu Fäusten. „Er hat mich vergessen, das ist mit ihm passiert!" Mein Vater begann zu lachen, „Vielleicht hat er endlich gemerkt, wie abscheulich und unliebenswert du bist, Louis." In diesem Moment verstärkte sich meine Vermutung, dass er hinter der Sache steckte, um ein Vielfaches. „Was hast du mit ihm getan? Ich hasse dich, ich hasse dich so sehr!", ich war nun vor ihm zum Stillstand gekommen und trommelte auf seinem Bauch herum. Mit einer leichten Handbewegung griff er nach meiner Hand und hielt sie fest. „Ich weiß nicht wovon du redest und ich habe wirklich andere Sorgen. Jetzt geh bitte in dein Zimmer, ich will dich erst wieder sehen, wenn du etwas heruntergekommen bist, verstanden?" Er brachte mich mit seiner Art zum kochen, doch die Trauer in mir überwog noch immer, weshalb ich nichts weiter sagte und nur noch mehr Tränen meine Augen verließen. Ich entzog mich seinem festen Griff, sah ihm ein letztes Mal mit hasserfüllten Blick in die Augen und verließ dann den Flur, um mich in mein Zimmer zu schieben. Die Wände des Raumes war noch immer mit zahlreichen Fotos von Harry und mir beklebt und ich sah mir jedes einzelne mit verschleiertem Blick an.
Ich sah, wie wir ein Selfie machten, Harry mit geschlossenen Augen, weil er aus Versehen den Blitz angelassen hatte und er so stark geblendet wurde, ich mit einem amüsiertem Grinsen im Gesicht und meine Augen auf ihn gerichtet. Ein anderes Bild zeigte nur Harry. Er hatte seine Hände in den Locken vergraben und sah mit verführerischem Blick in die Kamera, weil er der Meinung gewesen war, dass das sexy aussehen würde. In Wirklichkeit war es das gruseligste Foto, das ich je gesehen hatte.
Dann waren Bilder zu sehen, wie Harry mir einen Kuss auf die Wange presste, von unseren ineinander verschränkten Händen und eines in dem Harry mich als Fotograph nicht bemerkte hatte und gedankenverloren aus dem Fenster starrte. Mein Lieblingsfoto war jedoch eines, das Mum gemacht hatte. Harry saß auf meinem Schoß, ich hatte meine Arme um seine Hüfte geschlungen und wir grinsten beide mit glitzernden Augen in die Kamera. Weinend erinnerte ich mich an den Tag.
Wir waren gemeinsam im Kino gewesen und anschließend in einem kleinen, gemütlichen Café, wo wir stundenlang bei heißer Schokolade und Muffins geredet hatten. Als wir dann nach Hause kamen, trug Harry mich huckepack durch das gesamte Haus, weil er der Meinung war, dass ich Dinge einmal aus seiner Sicht sehen sollte. Im Anschluss daran war das Foto entstanden.
Als ich mich in dieser Nacht schlafen legte, wusste ich, dass es vermutlich mehrere Stunden brauchen würde, bis ich tatsächlich in eine Traumwelt abschweifen konnte. Eingehüllt in dicke Daunendecken, einen von Harrys Pullovern in meinen Armen haltend und mit rot geweinten, schmerzenden Augen lag ich auf meiner Matratze und dachte nach. Immer wenn ich meinen Gedanken freien Lauf ließ, geriet ich schnell aus der Gegenwart in die Vergangenheit, eine schmerzhafte Vergangenheit. Das war schon immer so gewesen, doch seit ich Harry hatte, war kaum Freiraum für negative Gedankengänge geblieben. Und jetzt, wo Harry weg war, war ich wieder vollkommen alleine. Alleine mit Gefühlen der Trauer, Schuld und Angst. Es hatte in meinem Leben selten Momente gegeben, in denen ich mit mir selber zufrieden gewesen war. Einer dieser Momente war, als ich Harry das erste Mal geküsst hatte, immer wenn er mir gesagt hatte, dass er mich liebte und perfekt fand, und wenn sein Blick so voller Liebe auf mich gerichtet war, dass ich mich sicher und begehrt fühlte. Jetzt war es, als wären all diese Augenblicke nichts mehr wert. Ich war dort, wo ich vor einigen Jahren begonnen hatte. Um genau zu sein, vor achteinhalb Jahren, als ich meine Schwester dazu überreden konnte, mich für einen Moment an das Lenkrad unseres Autos zu lassen. Als ich anschließend von der Fahrbahn abgekommen war, sie in den Tod gerissen hatte und von da an selber nur noch oberhalb der Hüfte funktionsfähig war.
Harry war der erste, der mich nicht unnütz und schuldig fühlen ließ. Wenn ich ihn jetzt nicht mehr hatte, wusste ich genau, dass es für mich keinen Sinn mehr darin gab, zu lächeln, weiterzuleben und Schmerzen zu unterdrücken.
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Ich bremse auch für Fußgänger | Larry
RomanceDie Räder seines Rollstuhls drehten sich beinahe lautlos auf dem glatten Steinboden, hinterließen feine Streifen und ein leises, quietschendes Geräusch. Manchmal dachte er sich, dass diese Räder wie sein Leben waren, eintönig und scheinbar endlos. A...