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Derweil war der Blonde Finne wieder Zuhause angekommen. Seiner Frau Etel hatte er für heute Abend abgesagt etwas zusammen zu unternehmen. Sie sollte sich lieber auswärts mit Freunden treffen. Er brauchte einen Abend für sich, um über alles, was passiert war, nachzudenken und einige Entscheidungen zu fällen. Er schenkte sich ein Glas Rotwein ein und machte es sich auf seinem Sofa bequem. Je länger er über alle getroffenen Entscheidungen nachdachte, desto schwerer fiel es ihm, die zu fällen, die noch gefällt werden mussten. Die Gedanken in seinem Kopf jagten sich, ein quälender Schmerz pochte hinter seiner Stirn. Mit dem Glas in der Hand lief er auf die Terrasse, wo ihn die sauerstoffreiche Luft umfing, wie eine schützende Decke. Der atemberaubende Blick über seine geliebte Heimatstadt Helsinki verfehlte seine Wirkung wie immer nicht. Die Dunkelheit war über die Stadt hereingebrochen, die Samu für nichts auf der Welt verlassen wollte, und tausende Lichter zeichneten sich vor dem dunklen Horizont ab.
Samu hörte auf den Verkehr, die Stimmen der Nachbarschaft. Irgendwo weiter entfernt hörte er Musik, aber sie war zu weit weg um das Lied zu erkennen. Ob es wohl eins von Sunrise Avenue war? In der Ferne hörte er eine Kirchturmglocke, die ihm verkündete, dass es bereits 20:30 Uhr war. Er war sich sicher, dass er gerade keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte, also entschied er sich für eine Auszeit vom Denken. Nur Alkohol konnte ihm eine solche verschaffen. Er trat zurück in die Wohnung, stellte das leere Glas in die Spüle, schnappte sich seinen Schlüssel und verschwand durch die Tür. Als er vor seinem Auto stand und gerade einsteigen wollte, übermannte ihn das schlechte Gewissen, vor dem er gerade hatte fliehen wollen. Etel wollte doch, dass er sich vom Alkohol fern hielt. Er habe in den letzten Jahren schließlich schon genug davon gehabt. Und da hatte sie ja auch Recht. Vorhin am Telefon hatte er es ihr noch fest versprochen, dass er nicht in die nächste Kneipe fahren und sich abschießen würde. Nur das Gläschen Wein hatte sie ihm genehmigt. Hin und her gerissen stand er vor seinem Wagen, dann setzte er sich kurz entschlossen hinein und fuhr los. Das Karussell in seinem Kopf brachte ihn um den Verstand, dabei hatte er über so viele wichtige Dinge nachdenken wollen, wie zum Beispiel die Zukunft seiner Band. Auf der einen Seite wollte er seine Jungs nicht im Stich lassen, auf der anderen Seite hatte Etel natürlich vollkommen Recht. Jahrelang hatte Sunrise Avenue Erfolg um Erfolg eingestrichen, egal ob Akustik, mit BigBand oder dem Wonderland Orchestra. Nicht viele Bands hatten soetwas, was Sunrise Avenue immer zu etwas Besonderem gemacht hatte. Nie hätten sie das Bedürfnis verspürt, erzwungen auf Platz eins der Charts zu kommen. Aber Samu brauchte eine Auszeit von diesem Rockstarleben, und er wollte diese Zeit mit Etel verbringen, egal ob sie nun Wochen, Monate oder gar Jahre dauern mochte. Aber ihm war klar, dass seine Jungs, die über die Jahre, wie eine Familie für ihn geworden waren, ihn dafür hassen würden.
Nicht einmal zwingend dafür, dass er monatelang verschollen war und noch dazu mal eben die Liebe seines Lebens geheiratet hatte, aber dafür, dass er die Band, seine Familie, vergessen hatte und sich nicht meldete. Sein schlechtes Gewissen hatte ihn nun mit voller Wucht eingeholt und ließ ihn noch mehr aufs Gas treten. Endlich kam er bei seiner Stammkneipe an und trat eilig ein.
Wie immer war hier nicht viel los.
Die Kneipe war unbekannt, etwas außerhalb, und gerade deshalb der Lieblingsort der Jungs von Sunrise Avenue geworden. Samu setzte sich auf seinen üblichen Platz an der Bar, bestellte sich ein Glas Schnaps, setze es an die Lippen und kippte es in einem Zug herunter. Die Flüssigkeit brannte in seiner Kehle und verschaffte ihm ein nur allzu bekanntes Gefühl, dass ihn an bessere Zeiten erinnerte. Um das Gefühl nicht zu verlieren, bestellte er sich ein Bier von der Marke, die er immer mit den Jungs getrunken hatte. Eigentlich mochte er Wein viel lieber, aber heute Abend brauchte er das.
Während er trank, ließ er seinen Blick durch die leere Bar schweifen. Fast leer. Sein Blick blieb an einer Gestalt in der hintersten Ecke hängen. Ein warmes Gefühl durchzog seinen ganzen Körper. Diese Locken würde er überall erkennen! Rick, sein bester Freund saß da hinten in der Ecke und starrte genauso ins Leere, wie Samu bis vor wenigen Sekunden. Sofort packte ihn das schlechte Gewissen wieder und verdrängte das angenehme Gefühl in seinem Bauch. Er konnte Riku gerade einfach nicht sehen. Zu sehr fürchtete er dessen Reaktion, wenn sie sich jetzt so wiedersahen. Wie auf der Flucht warf er so unauffällig wie möglich einen Schein auf den Tisch und lief zur Tür.
Er war schon halb aus der Kneipe verschwunden, als er eine tiefe, raue, und ihm nur zu gut bekannte Stimme vernahm.

Nothing is over{1}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt