Luzide Träume

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Das Haus in Seoul war kalt und leer, die Hälfte fehlte, Yoongi fehlte. Stunde um Stunde verrann. Die Zeit heilt alle Wunden, sagt man. Nur nicht bei ihm und Jimin, da war die Zeit die Wunde ihres Lebens. Sie bohrte sich in sie hinein, schlitzte ihre Haut auf und machte sie schlaftrunken. Wie kann ich das nur überstehen, Yoongi? Wie sollen wir das alles Überwinden? Wie kann ich dich hassen, wenn ich dich so sehr liebe? Wie kann ich dich aus meinen Träumen verbannen?Nacht für Nacht und Tag für Tag? Geh doch raus aus meinem Kopf, dachte Jimin und taumelte durch den Raum. Seine Glieder wurden schwer, seine Lider wurden schwer. Das wach bleiben fiel ihm immer schwerer und die Müdigkeit siegte letztendlich.

Sommer, die Blütenpracht verzauberte Jimins Sinne, tauchte ihn in das Gefühl lebendig zu sein wie nie zuvor. Er atmete tief ein, schnappte nach der rosigen, frischen Blüte, die vor seinen Augen vom Wind umherwirbelte. Weich und zart spürte er sie zwischen seinen Fingerspitzen, bis sie sich zu einem Dorn verformte und ihn stach. Ein kleiner tropfen Blut drängte sich durch seine Hautzellen und presste sich an die Oberfläche. Eine ihm nur zu gut bekannte Hand griff nach seiner und nahm den blutenden Finger zärtlich an sich und sagte: „Du musst vorsichtiger sein, Jiminie." 

„Hyung", kam es von dem Jüngeren. Erstaunt, erfreut und gleichzeitig so furchtbar entsetzt. Er war entsetzt darüber das er schlief. Er träumte erneut einen Traum, der für beide zum Albtraum werden würde. 

„Luzider Traum", sagte Yoongi. 

Jimin kräuselte die Stirn und fragte: „Wie bitte?" 

„Du träumst und du weißt das du träumst, dass nennt man luzide Träume und du hast mich dort mit hinein gerissen. Du tust es jede Nacht. Jedes mal wenn du deine Augen schließt reißt du mich mit in deine Welt. Warum?", kam es von seinem Freund, dessen Stimme in Hilflosigkeit versank. 

Jimin übernahm diesen Ton, denn auch er war diesem Gefühl ausgeliefert und antwortete: „Weil ich dich nicht hassen kann, Hyung, ich liebe dich! Ich denke an dich, jetzt und immerzu. Deshalb bist du hier, weil ich es dir nicht im wachen Zustand sagen kann, weil ich schwach bin, weil ich feige bin, ich..." 

„Hör auf, sei still!", fauchte Yoongi und entnahm ihm somit die Kraft sich ihm zu öffnen. „Ich will das nicht hören, ich will nicht dein Liebesgeflüster in meinen Ohren hören! Hör auf mir solche Sachen zu sagen. Ich will nicht wissen was du erlebt hast, ich will nicht wissen was in deiner Vergangenheit passiert ist. Das einzige was ich möchte ist das du endlich aufhörst mich so anzusehen, mich mit deinen Blicken auszuziehen. Du hast mich hier her gebracht also bring mich wieder fort!"


Wasser unter ihnen, Wasser in dem Yoongi ertrank. Der Träumende stand auf einem Felsen, hoch oben, und sah wie der Ältere sich unter ihm krampfhaft an dem Gestein festhielt. Jimin weinte. Er weinte bitterliche Tränen, die immer mehr zu Yoongis Qualen wurden. Sein Liebster ertrank in seinen Tränen die er für ihn verlor. Keine Schreie, nur die Tropfen konnte man hören, wenn sie sich mit den anderen unter ihnen vereinten. Luzider Traum, wieso konnte er ihn nicht formen, wieso konnte er seine Gedanken nicht in diese Welt einbringen? Hör auf zu weinen, dachte er, hör auf damit Jimin! Doch es funktionierte nicht. Jeder salzige Tropfen peitschte auf Yoongi hinunter und mit ihm abertausende mehr.

Sein Freund hatte ihn zu sehr verletzt, er zog seine Liebe in den Schmutz, in den Dreck. Und so fühlte sich Jimin gerade, wie ein Stück Dreck, getreten mit den Füßen seiner großen Liebe. Heimlich liebte er ihn, bei Tag. Und in der Nacht offenbarte er sich ihm. Doch Yoongi spielte nur mit, er spielte eine eigene Rolle, auch wenn er ihm diese Rolle auf dem Leib geschrieben hatte, ohne ihn jemals gefragt zu haben. Er hätte es tun sollen, er hätte Yoongi fragen sollen ob er ihn lieben durfte, bei Tag. Dann wären die Nächte nicht von Albträumen geplagt, so wie jetzt. Er stand immer noch auf dem Fels in der Brandung, versuchte seine Tränen zu verdrängen, aber wie könnte er dies, bei den harten zerrissenen Worten die sein hyung ihm entgegenschlug? Wie ein Echo erklangen die Worte immer wieder: hör auf mich zu lieben, bring mich von hier fort, hasse mich! Jimins Kopf schien zu platzen und er drehte sich im Kreis, drehte sich um Yoongi und sah ihm dabei zu wie er versuchte das Wasser aus seiner Kehle zu stoßen, wie das Röcheln zu hören war, wie er seine salzige Tränen trank.

„Ich kenne diese Tränen, ich kenne diesen kleinen Jungen, sehe ihn wieder vor mir und ich werde immer bei dir sein!", sagte der Nachtfalke, der über ihnen schwebte, während der Wind unter seinen Flügeln ihm Auftrieb verlieh. "Du hast deine Tränen damals für dich selber vergossen und jetzt tust du es für ihn. Den, der dich nicht liebt, der dich verachtet für das was du empfindest. Jimin, er ist nichts wert. Yoongi ist eine Hülle in der kein Gefühl steckt, in der Leere herrscht. Er wirft einen Schatten über den du nicht springen kannst, niemals.", erklärte der Falke ihm schmerzlich und die Worte trieben seine Traurigkeit immer weiter voran, zu seinem Herz welches zu bluten schien. Die Schmerzen der Erkenntnis das der Falke Recht hatte waren so drastisch und bizarr, dass er den Tränenfluss einfach nicht aufhalten konnte. Wo war der Damm den er hätte bauen können um seine Tränen von Yoongi fern zu halten? Doch das einzige was er tun konnte, war aufwachen. Aufwachen Jimin! Wach auf! 

Die Ärzte kämpften währenddessen um das Leben des Min Yoongi, der in seinem Bett lag und ertrank. Sie drehten ihn auf die rechte Seite damit das Wasser seinen Körper verlassen konnte. Doch es verließ ihn nicht, es drängte sich immer weiter in ihn hinein. Wie ein Kätzchen in großen Händen, das man zum Fluss trägt um es darin zu ertränken. Das man hineintaucht um sich ihm zu entledigen. Nicht lieb gewonnen, nicht geduldet. Und dabei war es genau das Gegenteil was ihn ertrinken lies, es waren die Tränen der Liebe, die ihm das Leben nahmen.

Zahlreiche studierte Menschen, mit Intelligenz bestückt, weiße Tracht, Namensschilder, die mit Dr. begannen, Schwestern mit entsetzen Blicken; so viele Menschen und doch konnte ihm keiner helfen. Das Signal des Todes erklang und der lang gezogene Strich auf dem Monitor verkündete das Ende.

Jimin hatte es geschafft zwei Tage und eine Nacht wach zu bleiben, doch die darauf folgende war zu viel. Zu viel für seinen Geist, der ermüdend vor ihm zu liegen schien. Er sah Yoongi nicht mehr, die Macht seiner Tränen hatte ihn übermannt, hatte ihn von dem halt gebenden Felsen entrissen. Immer noch weinte er, immer noch konnte er sie nicht stoppen. „JIMIN, EIN WAHRER TRAUM KOSTET EIN LEBEN, EIN WAHRES LEBEN IST NICHTS OHNE EINEN TRAUM", sagte der Nachtfalke und schlug noch ein letztes mal kräftig mit seinen Flügeln bevor er verschwand, verschwand aus Jimins Traum.

Sleepwalker ➛ ʏᴏᴏɴᴍɪɴWo Geschichten leben. Entdecke jetzt