Die Worte eines Vaters

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„Wird er je wieder seine Augen öffnen?".

Das ist meine Mutter. Ihre Stimme würde ich jeder Zeit und überall wiedererkennen.

Los komm schon! Zeig denen, dass mehr in dir steckt. Öffne deine Augen! Mindestens das solltest du doch hinbekommen, wenn du schon nicht anständig abnehmen kannst! Schämen solltest du dich. Versager!

Meine Augenlider flattern eine Weile bis ich sie öffnen kann. Jedoch nicht lang, denn das zu Beginn helle Deckenlicht zwingt mich meine Augen wieder zu schließen. Nach wenigen Sekunden wage ich einen neuen Anlauf.

„Liebling, sieh nur!".

Mein Vater ist auch da?

Die Sekunden verstreichen. Eine. Zwei. Zwanzig. Dann realisiere ich. Der Strand, der Sand und das Meer. Die salzige Luft und den warmen Wind in meinen Haaren. Die wärmenden Sonnenstrahlen auf meiner Haut. All das sind nur Inhalte eines Traumes gewesen. Der schönste Traum, den ich je in meinem Leben geträumt habe. Das ist alles nicht echt gewesen.

Nicht echt.

„Oskar, du bist wach! Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht!". Meine Mutter sprudelt wie ein Wasserfall und ich kann die Tränen in ihren Augen sehen. Ich weiß, dass sie mich liebt. Ich weiß, dass sie nur das Beste für mich möchte. Aber sie hat mich noch nie verstanden. Noch nie.

„Tut mir leid", nuschle ich und sehe sie an. Ich muss schrecklich aussehen, denn auf ihren Lippen zeichnet sich, trotz ihrer verbalen Freude, kein oder nur ein ganz schwaches Lächeln ab. „Du hättest sterben können. Wir waren ganz krank vor Sorge! Und deine Mutter erst!". Ich schlucke und sehe zu meinem Vater.

Er hat keine Tränen in den Augen. Sie sind auch nicht rot und geschwollen und er hat auch keine Schatten unter den Augen, sowie meine Mutter sie hat. Ich wette darauf, dass es ihm egal ist. Es ist ihm egal, wie es mir geht. Das ist es ihm immer gewesen. Das Einzige was ihm nicht egal ist, ist meine Mutter und er selbst. Man möchte behaupten, dass es daran liegt, dass er nicht mein leiblicher Vater ist.

„Tut mir leid", wiederhole ich immer noch nuschelnd. Ich bekomme die Zähne nicht auseinander. Egal mit welcher Willenskraft ich es auch versuche.

„Tut dir leid", äfft er mich nach, „Dir tut es leid und deiner Mutter ging es die Woche über immer schlechter. Siehst du nicht wie sie" – Ich bin froh, dass meine Mutter ihn in seinem Lauf stoppt. Ich habe seinen Wutanfall schon von meinem geistigen Auge gesehen.

„Schatz, es ist gut. Er ist ja jetzt wieder da", haucht sie ihm mit zittriger Stimme entgegen. Ich sehe die beiden einfach nur an. Wie sie an meinem Bettende sitzen und sich einander ansehen. Kurz wirft mein Vater mir einen bösen Blick zu. Von oben herab. „Möchtest du auch einen Kaffee?" fragt sie dann und schenkt ihm, dem Mann, der mich verachtet, ein Lächeln. Ihm, nicht mir. „Ich werde auch mit einem Arzt sprechen, in Ordnung?".

„Ist gut", entgegnet mein Vater ihr.

Ich bin nicht dumm. Ich sehe es ihr an. Ich kann es sehen, als sie beim Aufstehen noch einmal zu mir blickt. In ihren Augen. Ich kann es in ihren Augen sehen.

Sie ist froh den Raum verlassen zu können. Der Kaffee ist nur ein dummer Vorwand, um gehen zu können. Der Situation entfliehen zu können. Ihrem missratenen Sohn entfliehen zu können.

Ich senke meinen Blick auf die Bettdecke, unter der meine kalten Hände versteckt versuchen sich warm zu halten.

Hätte er nicht mit ihr gehen können? Oder besser, kann er nicht einfach ganz verschwinden?

Ich will ihn hier nicht haben. Wegen ihm bekomme ich eine Gänsehaut unter meinem Flaum auf den Armen. Wegen ihm bekomme ich Schweißausbrüche am ganzen Körper.

Er soll gehen!

„Bist du jetzt stolz auf dich?! Du dummer Junge! Willst du ihr Leben endgültig zerstören? Ist dein dummes Getue nicht schon Strafe genug für sie! Was hat sie dir getan, dass du so zu ihr bist?! Was stimmt denn nicht mir dir?!".

Seine Augen funkeln mich aus seinen schmalen Augenhöhlen an. Er hat seinen Kiefer sichtlich angespannt und scheint mich mit dem Blick auf der Stelle töten zu wollen.

Er weiß genau was er sagen muss, damit er mich zu weinen bringt. Er weiß es jetzt und er wusste es auch damals.

Das salzige Wasser brennt in meinen Augen und die Sicht verschwimmt vor meinen Augen. Wie gerne würde ich jetzt davonlaufen. In meinen Traum zurück. In dem noch alles in Ordnung ist. Wo die Sonne geschienen hat und ich den Sand unter meinen Füßen gespürt habe.

„Nicht mal deiner Mutter gönnst du ihr Glück. Es wäre besser, wenn dein Sturz dein Ende gewesen wäre!"

Dass ich diese Worte je vergessen würde, wusste ich zu dem Zeitpunkt nicht.

In 2 Monaten bist du tot!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt