Das letzte Ende

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Jedes Ende ist auch ein Neuanfang, wir wissen es zu dem Zeitpunkt nur noch nicht. Möchte gerne glauben, dass das stimmt.

Meine Hände zittern. Selbst als ich sie auf die kalten Fliesen des Badezimmers presse.

Der helle Ton des Patientenalarms klingt in meinen Ohren. Nur dumpf höre ich die schwere Tür aus Glas hinter mir ins Schloss fallen. Als hätte man die Welt auf Zeitlupe gesetzt. Menschen rennen durch den Flur. Menschen in weißen Kitteln und bordeauxfarbenen Hemden. Ich kenne diese Hemden. Schwestern tragen sie. Es ist ihre Arbeitskleidung. Auf der Station für Essgestörte aller Art sind sie hellblau. Eine verrückte, aber irgendwie schöne Art die Menschen in ihre Arbeitsbereiche zu unterteilen.

Ich presse vergeblich die Lippen aufeinander.

Ich setze langsam einen Fuß vor den Anderen. Zwei Schwestern schieben einen Wagen an mir vorbei. Viel mehr ein Wägelchen. Eines, welches mir viel zu vertraut ist, als das ich mich frage, was das für ein Wägelchen sein könnte. Zu oft habe ich es gesehen und zu gut weiß ich, was man damit tut. Ich habe vergessen auf die Nummerierung der Zimmer zu achten. Meine Augen folgen schon längst den Schwestern, die das Wägelchen schieben.

Ich muss atmen. Die Luft will raus. Sie will meine Lungen verlassen und wieder füllen. Meinen Körper mit Sauerstoff versorgen. Sie will, dass ich weiterlebe. Aber das will ich nicht. Das kleine Herz unter meinen deutlich sichtbaren Rippen gibt einen Rhythmus vor, dem der Sauerstoffgehalt in meinem Blut nicht gerecht wird. Nicht gerecht werden kann. Ich muss atmen.

Es ist ein Zimmer mittig des letzten Drittels des Korridors. Die Tür steht als einzige weit offen. Mein Kopf drängt mich weiter zu gehen. Zu sehen, was da los ist. Zu wissen, wer dieses Wägelchen braucht.

Es klopft. Ich habe die Tür abgeschlossen. „Oskar, du musst da rauskommen". Sie ist weiblich. Die Stimme, die zu mir von hinter der Tür spricht, ist weiblich und mir mehr als vertraut. Ich bin so lange schon hier, dass es mir leicht fällt Stimmen auseinander zu halten und einzelnen Krankenschwestern zuzuordnen. „Wir können dir helfen", versucht Schwester Lena es weiter. So wie sie ihm geholfen haben. Ich schweige.

Unfähig etwas zu sagen, mich bemerkbar zu machen, stehe ich einfach nur da. Ich stehe einfach nur da und starre das Schild an der Tür an. Die Konstruktion des Raumes erlaubt mir nur wenig zu sehen. Doch genug, um zu verstehen.

„Oskar!".

Ich kann es ihm nicht mehr sagen. Ich kann ihm nicht mehr sagen, wie leid es mir tut und, dass er mir alles bedeutet hat. Ich kann ihm nicht sagen, wie wichtig er mir ist und wie sehr ich ihn brauche. Wie sehr ich seine Worte brauche. Wie gut er mir tut. Wie sehr er mir hilft. Ich kann ihm nicht sagen, dass ich ihn nicht anschreien wollte, dass ich ihm vergebe und dass ich derjenige bin, der unfair war.

Ich konnte ihm nicht Auf Wiedersehen sagen.

Ich wollte noch Abschied nehmen.

Ein erstickter Laut verlässt meine Kehle und ich ziehe meine Knie an. Jetzt kann ich nichts mehr dagegen tun. Die Tränen finden ihren Weg über meine Wangen, hinter auf meine Knie und versinken dort im Stoff der Jeans. Der Kloß in meinem Hals, der über die Wochen mit ihm immer größer und größer geworden ist, lässt sich nicht mehr hinunterschlucken. Er will raus. Meine Lunge, die so nach Sauerstoff geschrien hat, kommt gar nicht hinterher, so viel wie ich davon zu mir nehme.

Zimmer 3.019 ist das Zimmer, aus dem der nervtötende Patientenalarm kommt.

Zimmer 3.019 ist das Zimmer, in das all diese Schwestern und Ärzte gestürmt sind.

Zimmer 3.019 ist das Zimmer, in das das Wägelchen, ein Wiederbelebungswäägelchen, geschoben worden ist.

Zimmer 3.019 ist sein Zimmer!

Irgendwo schreit jemand. Wie durch Nebel, so dumpf dringt es an mein Ohr. Doch es ist mir egal. Mir ist alles egal. Mir ist es egal, dass da draußen Schwester Lena steht, ihren Job tut und sich um mich sorgt. Mir ist es egal, dass da jemand irgendwo ziemlich laut und herzzerreißend schreit. Mir ist es egal, dass ich mit meinen Tränen den Boden flute. Mir ist es egal, wie sehr meine Augen davon brennen. Mir ist es egal, dass ich halb in meinem eigenen Erbrochenem sitze. Mir ist es einfach egal. Ich will nur, dass es aufhört. Ich will so sehr, dass dieser Schmerz in meiner Brust, der sich immer weiter in meinem Körper ausbreitet, bis gar nichts mehr übrig ist, aufhört. Ich will das nicht fühlen. Ich will das nicht ertragen.

Nicht die mit Kraft auffliegende Tür, nicht ihre Arme, die sich schützend und tröstend um mich legen und auch nicht ihre Worte, die sie mir sanft in mein Ohr murmelt, bringen meine Tränen dazu, zu versiegen.

Warum kümmert sich denn keiner um den schreienden Typ?!

„Es wird alles wieder gut".

Doch das wird es nicht. Es wird nie mehr gut, denn er ist fort. Er ist fort und er kommt nie mehr zurück. Alles was bleibt sind seine Worte.

„Ich lasse dich niemals allein."

In 2 Monaten bist du tot!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt