Der Besuch

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Kalt.

Das Wasser auf meiner dünnen Haut war kalt. Mit den Augen verfolge ich immer wieder einzelne Tropfen, die sich ihren Weg über meinen zierlichen, aber hübschen Körper bahnten. Vom schön hervorstehenden Schlüsselbein, über einzelne Rippen bis zum Brustbein, um meinen Bauchnabel herum, an meinen kantigen Hüftknochen vorbei, über die Innenseite meiner Oberschenkel, über meine Knie, bis in das Becken der Dusche. Ich vergrabe meine dürren Finger in meinen Zuckerwattehaaren, die langsam aber sicher an Farbe verlieren. Ich muss Mama bitten mir wieder Flamingo-Farbe mitzubringen. Oder Tineke, kurz Tine.

Madison hat es nicht geschafft. Sie ist tot.

Sie hatte zwar dünn ausgesehen. So wie ich gerne aussehen würde, aber das es so schlimm war habe ich nicht gewusst. Die Anderen auf der Station sagen, dass die lebenserhaltenden Maschinen Alarm geschlagen hätten und die Ärzte viel zu spät kamen. Denn Wiederbeleben stellt sich bei Menschen wie mir oft als problematischer dar, als es vielleicht bei anderen ist. Unseren Knochen fehlen Stoffe zum stabilisieren. Das bedeutet: Sie brechen leichter. Für Madison ist es wohl einfach zu spät gewesen.

Keiner kennt die genaue Todesursache.

Meistens höre ich den Leuten auf der Station auch nicht richtig zu bei sowas. Ich will das nicht hören. Nicht von Madison, aber auch nicht von irgendwem anderes. Der Tod ist etwas, was hier als allgegenwärtiges Thema gilt, dennoch macht es das nicht schöner.

Das Shampoo schäumt auf meiner Kopfhaut und zieht noch mehr Farbe aus meinen Haaren. Ich muss das wirklich nachfärben.

Schließlich verlässt mich die Lust und die Motivation zu duschen und ein kurzer Blick auf mein Handy, als ich die Dusche verlassen hatte, verrät mir, dass ich auch schon zwanzig Minuten unter der Brause gestanden habe. Ich seufze und wickle mich in ein Handtuch und laufe zum Bett. Dort habe ich vor dem duschen meine frische Kleidung bereit gelegt. Geschickt schlüpfe ich in eine Hose, ein T-Shirt und eine Sweatshirt-Jacke. Alles scheint an mir unförmig zu hängen.

Wieso hört eine Kleidergröße irgendwann auf? Das ist doch dumm!

Ich stehe etwas verwahrlost im Raum und schlinge die Arme um meinen Oberkörper. Es ist kalt. Hektisch blicke ich mich im Raum um. Als würde ich nach irgendwas suchen. Schließlich greife ich mir die Kuscheldecke, die eigentlich mal gewaschen gehört, aber ohne sie ist an Schlaf nicht zu denken. Ich bin froh gewesen, dass ich sie diese Nacht gehabt habe, denn der Tod der Schwester des Typen, der mir doch irgendwie wichtig ist, hat mich mehr mitgenommen als ich gedacht habe.

Ich wickle die Decke um mich und blicke dann zu Tür. Ohne darüber nachzudenken taucht das Bild von der weinenden Schwester Lena vor meinem inneren Auge auf.

Wie muss es erst Madisons Bruder gehen?

Ob er jemals wieder in den Speisesaal kommt?

Er hat ja keinen Grund mehr dazu. Madison ist nicht mehr hier und ich bin ihm wohl nicht so wichtig, wie Madison es gewesen war. Schließlich kennt er mich nicht einmal richtig.

Das Geräusch von Gelenk auf Holz reißt mich aus meiner Trance und ich setze mich auf das Bett. "Ja?" sage ich leise, aber mit der Gewissheit, dass es für den Menschen vor der Tür laut genug ist.

Wer kommt mich jetzt besuchen? Es ist doch gar nicht Besuchszeit, oder?

Langsam biegt sich die Türklinke nach unten und öffnet so das Schloss. Die Tür schwingt langsam, fast wie in Zeitlupe, auf und gibt den Blick frei.

Auf?

Auf den jungen Mann mit der Wollmütze. Madisons Bruder.

Dass das einiges bedeutete, mehr als mir vielleicht lieb ist, wusste ich zu dem Zeitpunkt nicht.

In 2 Monaten bist du tot!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt