Das endlose Buch

420 41 1
                                    

Das Rauschen in meinen Ohren wird lauter. Die Hitze steigt mir in den Kopf. Der Kloß in meinem Hals wächst auf eine unmenschliche Größe heran und mein kleines Herz schlägt schnell und bestimmt gegen mein Brustbein. So schnell und so bestimmt, dass es wehtut. Körperlich wehtut.

Ich höre das zittrige „Was?" mit meiner Stimme. Aus meinem Mund.

„Er liegt auf der Intensivstation", erzählte sie mir. „Er ist vorgestern Abend zusammengebrochen. Es ging ihm auf einmal sehr schlecht, zu schlecht".

Ich umklammere die eine Hand mit der Anderen, damit diese weniger zittert.

„Und", setze ich an, weiß aber im nächsten Moment gar nicht mehr was ich sagen soll. Ich habe die Frage vergessen. „Kann ich", ich muss den Kloß runterschlucken, doch es ist aussichtslos. Er hat sich festgekrallt. In meinem Hals. Mitten drin sitzt er und bewegt sich kein Stück vor und kein Stück zurück. Er sitzt dort und nimmt mir die Luft zum Atmen.

„Kann ich zu ihm?" bringe ich schließlich mit dünner Stimme über meine Lippen.

Es muss komisch klingen, denn ich bin nur irgendjemand aus der Station für Essgestörte Patienten. Ich soll gar nichts mit denen aus der Onkologie zu tun haben.

Schwester Lena blickt mich mit ihren traurigen, mitleidigen Augen an. Sie weiß, dass ich es verleugnen werde, wenn sie sagen würde, dass ich den fremden jungen Mann mag. Sie weiß, dass sie mich eigentlich nicht davon abbringen kann ihn sehen zu wollen, aber vor allem weiß sie, dass es mich um Längen zurückwerfen würde, wenn er nicht mehr da wäre.

Erneut schlucke ich, doch so oft ich auch meinen Speichel sammle und ihn dann schlucke, um den Kloß zu lösen, es reicht nicht.

„Okay", sagt sie nur und greift zu der Türklinke hinter sich.

Ist die Tür schon die ganze Zeit über geschlossen gewesen?

Ich setze meinen Fuß hinter ihr in den Flur des Krankenhauses. Er hat schon immer eine gewissen Kälte gehabt, aber heute, gerade in diesem Moment, wirkte er kälter und trostloser als je zuvor. Als wäre Trauer und Leid seine Sprache und er würde ein endloses Buch vorlesen.

Ich kneife meine Augen kurz zu. Ich will nichts von diesem endlosen Buch hören. Ich weiß, was es erzählt.

Den Blick starr nach vorn auf das Laminat gerichtet folge ich meiner Lieblingsschwester der Korridor hinunter. Immer weiter bis wir an die große Tür kommen, die zum einen den Weg nach draußen, in die Freiheit, aber auch den Weg in das restliche Krankenhaus verspricht. Mir persönlich gefällt die Freiheit mehr.

Wenn sie doch nicht meine versteckten Essensreste gefunden hätte.

Was bist du auch so idiotisch und versteckst sie in deinem Zimmer in deinem Kleiderschrank? Ist doch klar, dass sie die dort findet! Dummer Idiot!

Schwester Lena hält mir die Tür auf und ich schlüpfe wacklig hindurch.

Die Intensivstation ist direkt ausgeschildert.

Dass dies der Anfang von etwas ganz Neuem und Großem sein würde, ist mir zu dem Zeitpunkt nicht bewusst.

In 2 Monaten bist du tot!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt