Der zweite Fehler

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Das gemeinsame Essen von ihm und mir wird zum Ritual. Es vergeht kein Tag, an dem er nicht bei mir sitzt, mir Mut zuspricht und mir sagt, dass ich es kann. Dass wir das zusammen schaffen. Dass er mir hilft und für mich da ist.

Er hält mir meine kalten dünnen Finger und es scheint ihm nichts auszumachen. Es scheint ihn nicht zu stören, dass er seine Hände dadurch vielleicht schockgefrieren könnte. Im Gegenteil, er schenkt mir jedes Mal ein freundliches und aufmunterndes Lächeln. Er will mir wirklich helfen.

Ein Lächeln ziert meine Lippen, als ich die Augen aufschlage und die Decke meines Zimmers betrachte. Früher wäre es undenkbar gewesen, dass ich mich auf die Mahlzeiten am Tag gefreut hätte, aber gerade jetzt will ich nichts sehnlicher als ihn wieder zu sehen. Seine raue Stimme hören und seine liebevollen Augen auf mir ruhen spüren. Seine Hand an meiner spüren, die das warme angenehme Kribbeln in mir auslöst.

Bunte flimmernde Punkte sammeln sich vor meinen Augen, als ich meinen Oberkörper aufrichte und meine knochigen Füße auf den Boden absetze. Trotz, dass mein eigener Körper so unterkühlt ist, spüre ich die Kälte des Zimmerbodens und zucke leicht mit den Füßen zurück. Mit der einen Hand greife ich nach meiner Kuscheldecke und mit der anderen stoße ich mich leicht von der Bettkante ab. Ich schlage die Decke wie einen Umhang um meinen Körper und betrachte mich im Spiegel.

Ich erinnere mich an die Zeit, in der ich hier angekommen bin. Ich habe ähnlich die Decke um mich gelegt gehabt und mich in eben diesem Spiegel betrachtet. Zuvor hat man Bilder von mir in Unterwäsche gemacht. Man wollte festhalten wie weit meine angebliche Essstörung schon fortgeschritten war. Es gehöre zur Therapie, hat Schwester Lena damals gesagt.

Dabei will ich nur schön sein.

Ich fahre mir durch die Haare. Das Pink verblasst immer mehr und das blond schimmert an einigen Stellen durch. Es gleicht mehr einem Pastellton. Ich mag die Farbe nicht so ganz.

Mit zwei großen Hüpfern Richtung Schrank, die ich im Nachhinein doch eher bereue, denn meine treuen Begleiter, die bunten Punkte, sammeln sich wieder vor meinen Augen und es dauert eine Weile bis ich wieder klar sehen kann. Ich greife nach einer grauen nicht ganz so lockeren Jogginghose, ich mag nicht so gern zu weite Hosen, und zwei schwarzen Pullovern, die ich mir übereinander anziehen. Paradox, wenn man bedenkt, dass Sommer ist. Dazu ziehe ich mir noch flauschige Socken an. Die Decke muss ich im Zimmer lassen. Das ist beim Essen nicht erlaubt.

Mit großem Herzklopfen und einem zarten Lächeln auf den Lippen tapse ich, in Begleitung einer Schwester, durch den Korridor zum Saal. Ein bekannter Weg. Meine Begleitung lässt mich an der Tür allein. Sie hat keine Aufsicht bei der Nahrungsaufnahme. Kurz vor der schweren Glastür zum Saal lächelt mich Schwester Lena an. Sie freut sich.

Worüber?

Kaum habe ich den Speisesaal betreten schweift mein Blick auch schon suchend umher. Sucht nach der einen Wollmütze auf dem Haupt eines jungen Mannes. Doch sie ist nicht zu sehen.

Vielleicht kommt er später.

Oder er hat dich einfach vergessen. Du bist ihm zu anstrengend geworden! Das wird es sein. Genauso wie deinem Ex-Freund. Du bist fürchterlich anstrengend, Oskar.

„Hör auf", höre ich mich leise murmeln und greife mir ein Tablett. Samt dessen und dem darauf liegenden Essen setze ich mich an einen Tisch.

„Er wird noch kommen", hauche ich leise und betrachte das heutige Mahl.

Wird er nicht.

„Wird er doch", beharre ich und sehe auf die Glastür.

Die Minuten verstreichen. Eine. Zwei. Fünf. Zehn.

Ich blicke erneut auf die Uhr. Es ist jetzt zwanzig Minuten her, dass ich mit samt Tablett an unseren Tisch gesetzt habe. Ich muss schlucken und meine Hoffnung schwindet.

Was wenn meine Stimme recht hat? Wenn er wirklich nicht kommt? Wenn er wirklich das Interesse verloren hat? Ich zu anstrengend geworden bin?

Langsam greife ich nach der Gabel und häufe mir ein wenig Erbsen auf. Sie schmecken fad und langweilig. Nach Erbsen eben.

Er wird nicht kommen.

Mein Herz scheint sich zusammen zu ziehen und mein ganzer Brustkorb scheint dem Folge zu leisten. Mir bleibt die Luft für einen Moment weg und ich spüre einen Kloß in meinem Hals aufkommen.

Ich lasse die Gabel auf das Porzellan sinken und seufze leise. Dann greife ich mit beiden Händen um das Tablett und stehe langsam auf. Leise und immer mit dem flüchtigen Blick in den Raum. Wo ist Schwester Lena? Oder eine andere Schwester?

Als ich keinen sehe, nutze ich meine Chance und laufe zum WC.

Dass das vielleicht mein zweites Ende sein könnte, kommt mir zu dem Zeitpunkt nicht in den Sinn.

In 2 Monaten bist du tot!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt